Quellen beruhigte sich. Vielleicht regte er sich umsonst auf. Hatte Koll nicht gesagt, daß es um eine Regierungssache ging? Ein Befehl von oben, keine normale Verhaftung. Quellen wußte, daß man ihn nicht einfach zurückrufen würde, wenn man ihn wirklich entdeckte. Man würde ihn holen. Also handelte es sich um eine Dienstangelegenheit. Einen Augenblick sah er die Mitglieder der Hohen Regierung vor sich, schattenhafte Halbgötter, die einen Moment ihre anstrengende Tätigkeit unterbrachen, um Koll eine winzige Nachricht zukommen zu lassen.
Quellen warf einen langen Blick auf die grünen überhängenden Bäume, die sich unter dem Gewicht ihrer Blätter beugten und an denen noch ein paar Tropfen des heutigen Morgenregens glitzerten. Er ließ die Blicke bedauernd über die zwei großen Räume wandern, über seine luxuriöse Veranda, über die Landschaft. Jedesmal, wenn er von hier fortging, erschien es ihm wie ein endgültiger Abschied. Jetzt machte ihm nicht einmal das Summen der Fliegen etwas aus. Er schluckte und trat auf die Maschine zu. Das purpurne Feld hüllte ihn ein. Er wurde ins Innere gesogen.
Quellen wurde verschlungen. Die verborgenen Generatoren waren direkt mit dem Hauptgenerator verbunden, der sich endlos auf seinen Pfählen am Grund des Atlantiks drehte und die Thetakraft kondensierte, die eine sofortige Reise möglich machte. Was war die Thetakraft? Quellen konnte es nicht sagen. Er konnte kaum die Elektrizität erklären, und die gab es schon seit einer ganzen Weile. Er nahm sie als eine Gegebenheit hin und vertraute sich dem statischen Feld an. Wenn jemand die Abszissen um eine Kleinigkeit verschoben hätte, wären Quellens Atome irgendwo ins Universum gewirbelt und hätten sich nie wieder zusammengefügt. Aber an solche Dinge dachte man nicht.
Der Vorgang war blitzschnell. Die hagere, schmale Gestalt von Quellen wurde aufgegliedert, ein Strom von Wellikeln wurde über den halben Planeten geschickt, und Quellen war wieder als Einheit da. Es geschah so schnell, daß das Nervensystem den Schmerz des Auseinandergerissenseins gar nicht empfand.
Aber man dachte nicht über den technischen Zusammenhang nach. Man reiste einfach. Wozu sollte man sich mit unangenehmen Gedanken plagen?
Quellen tauchte in dem winzigen Apartment für Klasse-Sieben-Bürger auf. Es befand sich in Appalachia, und jeder glaubte, daß er hier wohnte. Ein paar Notizen warteten auf ihn. Er sah sie kurz durch. In der Hauptsache Werbeanzeigen. Und ein Zettel von seiner Schwester Helaine, daß sie bei ihm gewesen sei. Quellen hatte ein leichtes Schuldgefühl. Helaine und ihr Mann waren Proleten, die sich von der harten Wirklichkeit hatten überrumpeln lassen. Er wünschte oft, daß er etwas für sie tun könnte, denn ihr Elend verstärkte seine Gewissensbisse noch. Aber was konnte er machen? Es war besser, wenn er nicht auffiel.
Mit ein paar schnellen Bewegungen schlüpfte er aus seinen Freizeitkleidern und in die steife Uniform. Er entfernte das Schild Privat von seiner Tür. So verwandelte er sich von Joe Quellen, dem Besitzer eines verbotenen Grundstücks im Herzen eines unbekannten Gebietes Afrikas, in Joseph Quellen, Kriminalsekretär, Verteidiger von Gesetz und Ordnung. Er verließ das Haus. Der Aufzug brachte ihn über endlose Stockwerke zu der Schnellbootrampe. In der Stadt war das Reisen mit statischen Feldern technisch nicht möglich. Leider, seufzte Quellen vor sich hin.
Ein Schnellboot kam heran. Quellen schloß sich der Menge an, die hineindrückte. Mit einem schmerzhaften Angstgefühl fuhr er in die Stadt. Zu Koll.
Man hatte Quellen gesagt, daß das Polizeigebäude als architektonische Glanzleistung angesehen werden konnte. Achtzig Stockwerke, von spitzen Türmen überragt. Die roten Vorhangwände waren aus einem groben, rupfenartigen Gewebe und schimmerten wie ein Leuchtturm, wenn die Lichter eingeschaltet waren. Das Bauwerk hatte Wurzeln. Quellen hatte nie genau erfahren, wie viele unterirdische Stockwerke es besaß, und er hegte den Verdacht, daß niemand es wußte — außer ein paar Mitgliedern der Hohen Regierung. Bestimmt gab es zwanzig Komputerstockwerke und eine Ablage für ausgedientes Material. Dazu wahrscheinlich weitere acht Stockwerke mit Verhörräumen. Einige sagten, daß sich unterhalb der Verhörräume ein Komputer befand, der ganze vierzig Stockwerke umfaßte, und daß dies der richtige Komputer sei, während die anderen nur zur Tarnung dienten. Möglich, Quellen wollte seine Nase nicht zu tief in diese Dinge stecken. Wer neugierig war, mußte damit rechnen, daß die anderen ihn mit ihrer Neugier belästigten.
Büroangestellte nickten Quellen respektvoll zu, als er an ihren dichtgedrängten Schreibplätzen vorbeiging. Er lächelte. Er konnte es sich leisten, freundlich zu sein. Hier besaß er einen Status. Er war Klasse Sieben. Sie waren Vierzehner, Fünfzehner, und der Junge, der die Papierkörbe ausleerte, konnte höchstens ein Zwanziger sein. Für sie war er eine hohe Persönlichkeit, praktisch ein Vertrauter der Hohen Regierung, ein persönlicher Bekannter von Danton und Kloofman. Alles eine Sache der Perspektive, dachte Quellen. In Wirklichkeit hatte er Danton nur ein einzigesmal gesehen. Und auch da wußte er nicht, ob er es tatsächlich war. Er hatte keine Ahnung, ob es Kloofman gab. Wahrscheinlich.
Quellen krampfte die Hand um den Türgriff und wartete, bis ihn die Suchstrahlen identifiziert hatten. Die Tür zum inneren Büro ging auf. Er trat ein und warf einen Blick auf die unfreundlichen Gestalten, die hinter ihren Schreibtischen saßen. Da war der kleine, spitznasige Martin Koll, der einfach an ein großes Nagetier erinnerte. Er blätterte in einem Stoß von Zetteln. Leon Spanner, Quellens zweiter Chef, saß ihm gegenüber. Auch er hatte den Specknacken über Papiere gebeugt. Als Quellen eintrat, griff Koll mit einer nervösen Geste an die Wand und schaltete den Luftstrom für drei Personen ein.
»Sie haben reichlich lange gebraucht«, sagte Koll, ohne aufzusehen.
Quellen sah ihn finster an. Koll hatte graue Haare, ein graues Gesicht und eine graue Seele. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich mußte mich umziehen. Ich hatte meinen freien Tag.«
»Egal, was wir unternehmen, es ändert doch nichts«, knurrte Spanner, als sei niemand hereingekommen und als hätte niemand etwas gesagt. »Es ist nun mal geschehen, und wir können es nicht rückgängig machen. Verstehen Sie das? Am liebsten würde ich alles kurz und klein schlagen.«
»Setzen Sie sich, Quellen«, sagte Koll nebenbei. Er wandte sich an Spanner, einen großen, bulligen Mann mit zerfurchter Stirn und groben Gesichtszügen. »Ich dachte, wir hätten das alles schon einmal besprochen«, sagte Koll. »Wenn wir uns einmischen, gerät alles durcheinander. Bei einer Spanne von fünfhundert Jahren verschieben wir den ganzen Aufbau. Soviel steht fest.«
Quellen atmete insgeheim auf. Jedenfalls sorgten sie sich nicht um sein illegales Versteck in Afrika.
Es klang eher, als beschäftigten sie sich mit den Zeitreisenden. Gut. Jetzt, da seine Blicke keine Angst mehr verrieten, konnte er seine beiden Vorgesetzten mit größerer Aufmerksamkeit beobachten. Koll und Spanner diskutierten offenbar schon seit einer ganzen Weile. Koll war der intelligentere. Er hatte einen beweglichen Geist und eine nervöse, flattrige Energie. Aber Spanner hatte mehr Macht. Es hieß, daß seine Verbindungen bis zu den höchsten Stellen reichten.
»Gut, Koll«, knurrte Spanner. »Ich gebe sogar zu, daß es die Vergangenheit durchschütteln wird. Soviel gebe ich zu.«
»Nun, das ist schon etwas«, meinte der kleine Mann.
»Unterbrechen Sie mich nicht. Ich denke immer noch, daß wir der Sache ein Ende bereiten sollen. Wir können das Geschehene nicht ungeschehen machen, aber wir können es in diesem Jahr einstellen. Wir müssen es sogar.«
Koll funkelte Spanner verächtlich an. Quellen konnte sehen, daß Koll sich nur seinetwegen beherrschte.
»Weshalb, Spanner, weshalb?« fragte Koll mit einiger Beherrschung. »Wenn wir den Dingen ihren Lauf lassen, hört alles von selbst auf. Viertausend von ihnen gingen 86, neuntausend 87 und fünfzigtausend 88. Und wenn wir die Zahlen vom vergangenen Jahr bekommen, werden sie noch höher sein. Sehen Sie — hier heißt es, daß über eine Million Zeitreisende in den ersten achtzig Jahren ankamen und daß danach die Zahlen noch anstiegen. Denken Sie an die Bevölkerung, die wir verlieren! Es ist wundervoll. Wir können es uns einfach nicht leisten, diese Leute hierzulassen, wenn wir die Chance haben, sie loszuwerden. Und die Geschichte sagt, daß wir sie losgeworden sind.«