Und nun die Zeitreisenden.
Der Auftrag machte ihn unruhig. Er hatte um Nieren aus zweiter Hand gefeilscht und die Preise von Samenzellen verglichen, aber er hatte keine Ahnung, wie er mit dieser illegalen Zeitreise fertig werden sollte. Die Grenzen des Kosmos schienen sich zu verlieren, wenn man erst einmal an diese Möglichkeit dachte. Es war schon schlimm genug, daß der Strom der Zeit unerbittlich vorwärtsfloß. Das konnte der Mensch verstehen, wenn es ihm auch nicht gefiel. Aber rückwärts? Die Umkehr aller Logik, die Verneinung jedes vernünftigen Denkens? Quellen war ein vernünftiger Mann. Das Zeitparadoxon bereitete ihm Kummer. Vor allem, da er wußte, wie leicht es war, das Stati-Feld zu betreten, Appalachia den Rücken zuzukehren und zu der Ruhe und Feuchtigkeit seines afrikanischen Verstecks Zuflucht zu nehmen.
Er bekämpfte die Apathie, die ihn beschlich, und schaltete den Projektionsapparat ein. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Schwarz-Weiß-Bild. Die Spule begann sich abzuwickeln. Quellen beobachtete die Worte, die an seinen Augen vorbeizogen.
Das erste Zeichen einer Invasion aus der Zukunft entdeckte man etwa im Jahre 1979, als mehrere Menschen in merkwürdiger Kleidung im Gebiet von Appalachia auftauchten, damals als Manhattan bekannt. Die Aufzeichnungen besagen, daß sie im Laufe des folgenden Jahrzehnts mit zunehmender Häufigkeit erschienen. Auf Befragen gestanden sie schließlich alle, daß sie aus der Zukunft kämen. Die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts mußten sich unter dem Druck des Augenscheins schließlich damit abfinden, daß sie von einer friedlichen, wenn auch beunruhigenden Völkerwanderung aus der Zukunft heimgesucht wurden.
Es gab noch mehr Wissenswertes, noch eine ganze Spule, aber Quellen hatte für den Augenblick genug. Er schaltete den Projektionsapparat aus. Die Hitze des kleinen Büros war trotz der Klimaanlage und trotz der Sauerstoffzufuhr unerträglich. Er konnte seinen eigenen Schweiß riechen, und das Gefühl behagte ihm gar nicht. Quellen sah verzweifelt die beengenden Wände an und dachte mit Sehnsucht an den dunklen Fluß, der vor der Veranda seines Afrika-Verstecks dahinfloß.
Er drückte auf die Taste des Diktiergeräts und notierte ein paar Gedanken.
»1. Können wir einen lebenden Zeitreisenden fangen? Das heißt, einen Menschen aus unserer eigenen Zeit, der um zehn oder zwanzig Jahre zurückging und sein eigenes Leben ein zweitesmal durchlebt. Gibt es solche Menschen? Was würde geschehen, wenn man sich dabei selbst begegnete?
2. Angenommen, man könnte einen lebenden Zeitreisenden fangen, dann müßte er verhört werden. Wir wissen nicht, durch welche Techniken die Zeitreisen ermöglicht werden.
3. Alles deutet darauf hin, daß das Zeitreisen-Phänomen nur bis zum Jahre 2491 geht. Heißt das, daß unsere Nachforschungen erfolgreich waren, oder handelt es sich lediglich um Aufzeichnungslücken?
4. Stimmt es, daß vor dem Jahr 1979 keine Zeitreisenden registriert wurden? Weshalb?
5. Möglichkeit einer Verkleidung als Klasse-Fünfzehn-Prolet in Betracht ziehen. Vielleicht ergibt sich dadurch Kontakt mit Agenten des Zeitreisenunternehmens. Ist diese Methode gesetzlich genehmigt? In Gesetzeskomputern nachsehen!
6. Aussagen von Familienangehörigen kürzlich verschwundener Zeitreisender sammeln. Sozialer Stand, Verläßlichkeit usw. Wenn möglich, Ereignisse kurz vor dem Verschwinden des Zeitreisenden verfolgen.
7. Vielleicht …«
Quellen ließ den letzten Zettel unvollendet und drückte auf den Hebel des Diktiergeräts. Die Mini-Notizen fielen auf den Tisch. Er ließ sie liegen und wandte sich wieder dem Projektionsapparat zu.
Eine Analyse der Zeitreisen-Aufzeichnungen ergibt, daß alle bekannten Reisen in den Jahren 1979 bis 2106 stattfanden, also in einer Epoche, als es die Hohe Regierung noch nicht gab. (Quellen beschloß, sich das zu merken. Vielleicht war es wichtig.) Die Zeitreisenden, die bei der Untersuchung bereit waren, das Jahr ihrer Abreise zuzugeben, nannten alle eine Zahl zwischen 2486 und 2491. Natürlich schließt das nicht die Möglichkeit aus, daß unentdeckte Zeitreisende aus einer anderen Zeit kamen, ebenso wie man nicht genau feststellen kann, ob alle Reisenden in der vorher genannten Zeitspanne von 127 Jahren ankamen. Dennoch …
Hier war eine Textunterbrechung. Brogg hatte eine Mininotiz beigefügt:
Siehe Material A, B. Untersuchung über die Möglichkeit der Zeitreise außerhalb der festgehaltenen Zeiträume. Merkwürdige Vorkommnisse, die eine nähere Betrachtung wert sind.
Quellen fand Material A und B auf seinem Schreibtisch. Es waren zwei weitere Spulen. Er legte sie nicht in den Projektionsapparat. Er ließ auch die Geschichtsspule nicht weiter ablaufen. Er lehnte sich zurück und überlegte.
Alle Zeitreisenden schienen aus einer einzigen Fünfjahresperiode zu kommen, von der jetzt vier Jahre vergangen waren. Alle Zeitreisenden waren in einem Zeitabschnitt gelandet, der 127 Jahre umfaßte. Natürlich, einige Reisende waren nicht entdeckt worden und hatten sich glatt in das Schema der neuen Periode eingepaßt. Ihre Namen tauchten nie auf den Listen der Zeitreisenden auf. Quellen wußte, daß die Mittel zur Aufspürung gesuchter Personen vor drei- oder vierhundert Jahren noch sehr primitiv gewesen waren, und es war überraschend, daß man überhaupt so viele entdeckt hatte. Aber wahrscheinlich hatten die Proleten einer niedrigen Klasse kein besonderes Geschick, sich einer ungewohnten Umgebung anzupassen. Doch das Syndikat, das die Zeitreisen betrieb, hatte sicher nicht nur Proleten in die Vergangenheit geschickt.
Quellen holte die Geschichtsspule aus dem Projektor und spannte statt dessen die Spule mit Material A ein. Er ließ die Maschine laufen. Material A war nicht besonders interessant: mehr oder weniger eine Namensliste aller entdeckten Zeitreisenden. Quellen ließ die Spule ablaufen und sah nur hin und wieder genauer auf die Beschreibungen.
BACCALON, ELLIOT V.: Entdeckt am 4. April 2007 in Trenton, New Jersey. Elf Stunden verhört. Angegebenes Geburtsdatum: 27. Mai 2464. Beruf: Komputertechniker fünfter Ordnung. Zuweisung in die Camden-Rehabilitations-Zone für Zeitreisende. Am 30. Februar 2011 zur therapeutischen Behandlung an die Westvale-Poliklinik überwiesen. Entlassen am 11. April 2013. Von 2013 bis 2022 als Schalttechniker beschäftigt. Am 7. März 2022 an Rippenfellentzündung mit Komplikation gestorben.
BACKHOUSE, MARTIN D.: Entdeckt am 18. August 2102 in Harrisburg, Pennsylvania. Vierzehn Minuten verhört. Angegebenes Geburtsdatum: 10. Juli 2470, angeblicher Reisetag: 1. November 2488. Beruf: Komputertechniker siebter Ordnung. Zuweisung in die West-Baltimore-Rehabilitations-Zone. Am 27. Oktober 2102 endgültig entlassen. Als Komputertechniker beim staatlichen Zolldienst beschäftigt. Dienstzeit von 2102 bis 2167. Verheiratet mit Lona Walk (ebenfalls Zeitreisende) seit 22. Juni 2104. Am 16. Mai 2187 an Lungenentzündung gestorben.
BAGROWSKI, EMANUEL: Entdeckt …
Quellen hielt den Apparat an. Er suchte sich die Beschreibung von Lona Walk heraus und machte die interessante Entdeckung, daß sie im Jahre 2098 gelandet war, angeblich im Jahre 2471 geboren war und am ersten November 2488 die Zeitreise gemacht hatte. Es war also verabredet gewesen: Ein Achtzehnjähriger und eine Siebzehnjährige, die dem fünfundzwanzigsten Jahrhundert den Rücken zukehrten und in der Vergangenheit gemeinsam ein neues Leben beginnen wollten. Aber Martin Backhouse war im Jahre 2102 gelandet und seine Freundin im Jahre 2098. Bestimmt hatten sie es nicht so geplant. Womit Quellen den Beweis hatte, daß der Sprung in die Vergangenheit nicht hundertprozentig vorherzuplanen war. Wenigstens nicht am Anfang. Ihm kam der Gedanke, wie unangenehm das für Lona Walk gewesen sein mußte: in der Vergangenheit zu landen und dort zu erfahren, daß der Mann ihrer Wahl es nicht im gleichen Jahr geschafft hatte.