Verdrossen: »Du weißt, weshalb ich hier bin, Sarah.« Er stand noch kerzengerader da als sonst und funkelte sie an. Der Blick hätte nicht anklagender sein können, hätte man sie gerade am Mord seiner Mutter schuldig gesprochen.
»Was …?« Ihre Stimme ließ sie im Stich.
Nathans Lippen kräuselten sich verächtlich. Ich befürchtete schon, daß er die Schuld-Masche gewaltig übertrieb, und wollte gerade dazwischentreten und eine nicht so auf Konfrontation bedachte Annäherung versuchen, als dann mitten in seinem nächsten Satz echter Schmerz; in seiner Stimme mitschwang: »Ich hätte nicht gedacht, daß du dazu fähig bist, Sarah.«
Mit ihrer hellbraunen Ponyfrisur und den großen Brillengläsern sah sie wie ein Schulmädchen aus. Jetzt war diesem Schulmädchen unbehaglich zumute: ihre Lippen zitterten, und sie stotterte schnelclass="underline" »Ich … ich …« Und dann verlor sie die Fassung, und mit einem leisen Schluchzer taumelte sie auf Nathan zu und brach an seiner breiten Schulter zusammen. Er tätschelte mit einem verwirrten Gesichtsausdruck ihren Kopf.
»Oh, Nathan«, sagte sie, noch immer elendig schluchzend. »Es ist so schrecklich …«
»Ist ja schon gut«, sagte er, steif wie ein Brett. »Ich weiß.«
Die beiden vertieften sich für eine Weile in ihren Gedankenaustausch. Ich räusperte mich. »Warum gehen wir nicht irgendwo hin und trinken etwas«, schlug ich vor, mit dem sicheren Gefühl, daß die Dinge schon wieder etwas freundlicher aussahen.
6
Wir gingen in die Cafeteria des Hotels Annapurna, und dort bestätigte Sarah Nathans schlimmste Befürchtungen. »Sie haben ihn im Badezimmer eingesperrt.« Anscheinend fraß der Yeti immer weniger, und Valerie Budge drängte Mr. Fitzgerald, ihn sofort dem lächerlichen kleinen Zoo der Stadt zu überstellen, doch Fitzgerald flog eine Gruppe Wissenschaftler und Fachjournalisten ein, um morgen oder übermorgen eine Pressekonferenz abzuhalten, und er und Phil wollten bis dahin warten. Sie hofften darauf, daß die Carters der Enthüllung, wie Freds es nannte, beiwohnten, hatten aber noch keine Zusage bekommen.
Freds und ich stellten Sarah Fragen über die Vorgänge im Hotelzimmer. Anscheinend wechselten sich Phil, Valerie Budge und Fitzgerald mit der ständigen Bewachung des Badezimmers ab. Wie fütterten sie ihn? Wie fügsam war er? Frage, Antwort, Frage, Antwort. Nach ihrem ursprünglichen Zusammenbruch erwies sich Sarah als zähe und vernünftige Frau. Nathan andererseits verschwendete nur unsere Zeit, indem er unentwegt wiederholte: »Wir müssen ihn da rausholen, und zwar schnell, sonst ist es sein Ende.« Sarahs Hand auf der seinen nährte die Flamme nur noch. »Wir müssen ihn einfach retten.«
»Ich weiß, Nathan«, sagte ich und versuchte nachzudenken. »Das wissen wir schon.« Langsam entstand in meinem Hinterstübchen ein Plan. »Sarah, hast du einen Zimmerschlüssel?« Sie nickte. »Na gut, gehen wir.«
»Was, sofort?« rief Nathan.
»Klar! Wir haben es doch eilig, oder? Diese Reporter werden bald eintreffen, und sie werden merken, daß Sarah verschwunden ist … Und wir müssen uns vorher noch ein paar Sachen besorgen.«
7
Es war schon später Nachmittag, als wir zum Sheraton zurückkehrten. Freds und ich fuhren auf gemieteten Fahrrädern, und Nathan und Sarah folgten in einem Taxi. Wir machten dem Taxifahrer klar, daß er vor dem Hotel auf uns warten sollte; dann stiefelten Freds und ich hinein, gaben Nathan und Sarah das Zeichen, daß alles in Ordnung sei, und gingen direkt zu den Telefonen in der Lobby. Nathan und Sarah gingen zur Rezeption und nahmen sich ein Zimmer; sie mußten eine Weile untertauchen.
Ich rief in allen Zimmern auf der obersten Etage des Hotels an (der dritten), über die Hälfte davon wurden von Amerikanern bewohnt. Ich erklärte, ich sei J. Reeves Fitzgerald, Assistent der Carters, die ebenfalls in dem Hotel wohnten. Alle wußten über die Carters Bescheid. Ich erklärte, die Carters würden einen kleinen Empfang für die Amerikaner im Hotel geben, und wir hofften, sie würden daran teilnehmen und in die Kasinobar kommen — die Carters würden in etwa einer Stunde dort sein. Alle freuten sich über die Einladung (bis auf einen verdrossenen Republikaner, bei dem ich schließlich auflegen mußte) und versprachen, gleich zu kommen.
Der letzte Anruf galt Phil Adrakian in Zimmer 355; ich gab mich als Lionel Holding aus. Es klappte so gut wie bei den anderen; wenn überhaupt, war Adrakian noch begeisterter. »Wir kommen sofort, danke — und wir haben sogar eine Gegeneinladung auszusprechen.« Ich war natürlich voreingenommen, aber er klang wirklich nach einem widerlichen Kerl. Nathans Bezeichnung Theoretiker schien für mich nicht ganz zuzutreffen; ich zog eher etwas wie Arschloch oder so vor.
»Sehr schön. Die Einladung gilt natürlich Ihrer ganzen Gruppe.«
Freds und ich warteten in der Bar und beobachteten die Fahrstühle. Amerikaner in ihren besten Safarianzügen strömten hinaus und gingen zum Kasino; man hätte nicht glauben mögen, daß es soviel Polyester in Katmandu gab, aber es reist sich wohl gut darin.
Zwei Männer und eine untersetzte Frau kamen die breite Treppe neben dem Fahrstuhl hinab. »Sind sie das?« fragte Freds. Ich nickte; sie paßten genau auf Sarahs Beschreibung. Phil Adrakian war klein, schlank und gutaussehend, wenn man auf kalifornische Sunny Boys stand. Valerie Budge trug eine Brille und hatte ihr üppiges lockiges Haar hochgesteckt; irgendwie wirkte sie intellektuell, wo Sarah nur lernbegierig wirkte. Der Geldgeber, J. Reeves Fitzgerald, war um die Sechzig und sah sehr fit aus, wenngleich er eine Zigarre rauchte. Er trug eine Safarijacke mit acht Taschen darauf. Adrakian unterhielt sich leise mit ihm, als sie durch das Foyer zur Kasinobar gingen, und ich hörte, wie er sagte: »… besser als eine Pressekonferenz.«
Ich hatte eine letzte Eingebung und kehrte zu den Telefonen zurück. Ich fragte die Hotelvermittlung nach Jimmy Carter und wurde verbunden; es hob jedoch ein sehr geschäftsmäßig klingender Mann mit einem Akzent ab, der verriet, daß er aus dem Mittelwesten stammte. »Hallo?«
»Hallo, ist da die Suite der Carters?«
»Darf ich fragen, wer dort spricht?«
»Hier ist J. Reeves Fitzgerald. Ich möchte Sie bitten, die Carters zu informieren, daß die Amerikaner im Sheraton für heute nachmittag einen Empfang für sie in der Kasinobar des Hotels organisiert haben.«
»… ich bin nicht sicher, ob Ihr Zeitplan ihnen die Teilnahme erlaubt.«
»Ich verstehe. Aber lassen Sie es sie bitte trotzdem wissen.«
»Natürlich.«
Zurück zu Freds, wo ich mit zwei Schlucken ein Glas Bier leerte. »Na ja«, sagte ich. »Irgend etwas wird passieren. Gehen wir rauf.«
8
Ich klingelte bei Nathan und Sarah an, und sie trafen uns vor der Tür des Zimmers 355. Sarah schloß uns auf. Es war eine große Suite — typischer Holiday Inn-Stil —, die sich in jeder Stadt auf der Erde befinden könnte. Abgesehen von dem leichten Geruch nach nassem Fell.
Sarah ging zur Badezimmertür und entriegelte sie. Dahinter regte sich etwas. Nathan, Freds und ich traten unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Eine Bewegung, und dann stand er vor uns. Ich starrte in die Augen des Yetis.
In der Tourismusbranche von Katmandu gibt es Kalender, Postkarten und bedruckte T-Shirts mit der Zeichnung eines Yetis darauf. Es ist immer dieselbe Zeichnung, was ich nie begriffen habe: Warum sollten sich alle auf dieselbe Vermutung versteifen? Es ärgerte mich: ein kleiner Pelzball, der einem den Rücken zugewandt hatte, mit dem üblichen Affengesicht über die Schulter zurück sah und die Sohle eines großen nackten Fußes zeigte.
Es freut mich, Ihnen bestätigen zu können, daß der echte Yeti ganz anders aussah. Oh, ein Fell hatte er schon; aber er hatte etwa Freds’ Größe und ein eindeutig humanoides Gesicht, umgeben von einer bartähnlichen Krause aus mattem rötlichem Pelz. Er sah ein wenig wie Lincoln aus — klar, wie ein kleiner und sehr häßlicher Lincoln mit einer platten Nase und ziemlich hervorstehenden wulstigen Brauen —, aber die Ähnlichkeit war vorhanden. Es erleichterte mich, wie menschlich sein Gesicht wirkte — mein Plan hing davon ab, und ich war froh, daß Nathan bei seiner Beschreibung nicht übertrieben hatte. Das einzige Merkmal, das wirklich ungewöhnlich wirkte, war der Hinterhauptkamm, ein schmaler erhöhter Streifen aus Knochen und Muskeln, der längs über seinen Kopf verlief, als habe der Schädel selbst einen Mohikaner-Haarschnitt.