»Genau deshalb will ich im Hochtal einen Hochsitz errichten«, schappte Phil, der Armaats Nadelstiche allmählich überdrüssig war. »Nathan, du mußt mitkommen und mir dabei helfen.«
»Und den Weg suchen«, sagte ich. Die anderen stritten weiter, und Sarah ergriff meine Position oder erwies sich ihr gegenüber zumindest als einsichtig; ich zog mich zurück, besorgt um die Gestalt in den Schatten, die ich an diesem Tag gesehen hatte. Phil beobachtete mich argwöhnisch, als ich ging.
Also bekam Phil seinen Willen, und wir errichteten einen winzigen Hochsitz in dem oberen Tal westlich von dem, in dem ich den Yeti entdeckt hatte. Wir verbrachten mehrere Nächte oben auf einer alten Eiche und beobachteten jede Menge geflecktes Rotwild und in der Dämmerung ein paar Affen. Phil hätte zufrieden sein können, wurde jedoch immer verdrossener. Aus einigen seiner Äußerungen war mir ersichtlich geworden, daß er die ganze Zeit über gehofft hatte, den Yeti zu finden; er erflehte diese große Entdeckung geradezu.
Und eines Nachts geschah es. Der Mond war auf beiden Seiten konvex, und die dünnen Wolken ließen den größten Teil seines Lichts durch. Etwa zwei Stunden vor der Morgendämmerung war ich leicht eingenickt, und Adrakian stieß mich mit dem Ellbogen an. Wortlos deutete er auf das hintere Ufer eines kleinen Teiches im Bach.
Sich bewegende Schatten im Schatten. Ein Schimmer Mondlicht auf dem Wasser — dann eine aufrecht stehende Gestalt. Einen Augenblick lang sah ich deutlich den Kopf, einen großen, seltsam geformten Schädel. Er wirkte fast menschlich.
Ich wollte eine Warnung rufen; statt dessen verlagerte ich mein Gewicht auf der Plattform. Sie knarrte ganz leise, und augenblicklich war die Gestalt verschwunden.
»Du Idiot!« flüsterte Phil. Im Mondlicht sah er aus, als könne er einen Mord begehen. »Ich folge ihm!« Er sprang aus dem Baum und zog einen Gegenstand, den ich für eine Betäubungspistole hielt, aus seiner Jackentasche.
»Im Dunkeln wirst du da draußen nichts finden!« flüsterte ich, doch er war schon fort. Ich kletterte hinab und folgte ihm — über meine Absicht war ich mir selbst nicht ganz im klaren.
Na ja, Du kennst ja den nächtlichen Wald. Keine Chance, Tiere zu sehen oder auch nur schnell vorwärts zu kommen. Eins muß ich Adrakian zugestehen — er war schnell und leise. Ich verlor ihn fast augenblicklich, und danach hörte ich nur noch gelegentlich das Knacken eines Zweiges in der Ferne. Über eine Stunde verstrich, und ich wanderte ziellos umher. Als ich zum Bach zurückkehrte, war der Mond untergegangen, und am Himmel dämmerte es schon.
Ich ging um einen großen Flußstein am Ufer herum und wäre fast direkt in einen Yeti gelaufen, der von der anderen Seite kam, als schritten wir auf einem belebten Bürgersteig aus und wären beide in dieselbe Richtung gegangen, um uns auszuweichen. Er war etwas kleiner als ich; dunkles Fell bedeckte seinen Körper und Kopf, ließ jedoch das Gesicht frei — ein Fleck rosa Haut, der im schwachen Licht ziemlich menschlich wirkte. Seine Nase war sowohl die eines Menschen als auch die eines Primaten — breit, aber aus dem Gesicht hervorstehend — und wirkte wie eine Erweiterung des Hinterhauptwulstes, der seinen Schädel von einer Schläfe zur anderen umzog. Sein Mund war breit, und sein Kinn unter einem krausen Bart noch breiter, aber nichts davon lag außerhalb der Parameter, die für eine menschliche Erscheinung zutreffen. Er hatte dicke wulstige Brauen hoch über den Augen, so daß sein Blick von permanenter Überraschung zu künden schien, wie bei einer Katze, die ich einmal gehabt hatte.
Ich bin überzeugt, daß er in diesem Augenblick wirklich überrascht war. Wir beide standen still wie Bäume und schwankten leicht im Wind unserer Begegnung — aber sonst rührte sich keiner. Ich atmete nicht einmal. Was sollte ich tun? Ich stellte fest, daß er einen kleinen geglätteten Stock in der Hand hielt und im Fell seines Halses einige kleine Gegenstände an einer Schnur hingen. Sein Gesicht, Werkzeug, Schmuck: ein Teil von mir, der Teil, der nicht schockiert war, dachte (ich nehme an, im Grund meines Herzens bin ich noch Zoologe): Sie sind nicht nur Primaten, sie sind Hominide.
Wie um diese Vorstellung zu bestätigen, sprach er zu mir. Er summte kurz; knarrte; schnüffelte ein paar Mal; zog die Lippen zurück (und enthüllte dabei einen gewaltigen Eckzahn) und pfiff ganz leise. In seinen Augen lag eine Frage, so ruhig, sanft und intelligent vorgebracht, daß ich kaum glauben konnte, sie nicht verstehen und beantworten zu können.
Ich hob ganz langsam die Hand und wollte »Hallo!« sagen. Dumm, ich weiß, aber was sagt man, wenn man einen Yeti trifft? Auf jeden Fall kam nichts bis auf ein ersticktes »Harn« dabei heraus.
Er neigte wißbegierig den Kopf und wiederholte das Geräusch. »Harn. Harn. Harn.«
Plötzlich riß er den Kopf hoch und sah an mir vorbei, bachaufwärts. Er öffnete weit den Mund und stand lauschend da. Er starrte mich an und versuchte mich einzuschätzen. (Ich schwöre, ich weiß genau, daß dem so war!)
Bachaufwärts krachten Äste, und er nahm mich am Arm, und hopp, waren wir am Rand des Baches und im Wald. Hals über Kopf durch die Bäume, und wir lagen hinter einem umgestürzten Baum flach auf dem Boden, nebeneinander auf feuchtem, nachgiebigem Moos. Mein Arm tat weh.
Phil Adrakian erschien unten im Bachbett; er wirkte ziemlich mitgenommen. Er hatte sich im Unterholz verfangen und an mehreren Stellen das Nylon seiner Jacke aufgerissen, so daß ihm beim Gehen weiße Flocken hinterherwehten. Und er war irgendwo in Schlamm gefallen. Der Yeti kniff die Augen zusammen, als er ihn beobachtete, und wollte von ihm eindeutig nicht gesehen werden.
»Nathan!« rief Phil. »Naaaa-thannnn!« Er war anscheinend noch immer voller Tatkraft. »Ich habe einen gesehen! Nathan, wo bist du, verdammt!« Er ging rufend bachabwärts, und der Yeti und ich blieben liegen, bis er an uns vorbeigegangen war.
Ich weiß nicht, ob ich je einen zufriedeneren Augenblick erlebt habe.
Als er um eine Biegung des Baches verschwunden war, setzte der Yeti sich auf und lehnte sich wie ein müder Lagerarbeiter gegen den Stamm. Die Sonne ging auf, und er grunzte, pfiff, atmete langsam und beobachtete mich. Was dachte er? In diesem Augenblick hatte ich nicht die geringste Ahnung. Er machte mir sogar angst; ich konnte mir nicht vorstellen, was jetzt geschehen würde.
Er zerrte mit den Händen, die länger und schmaler als menschliche waren, an meiner Kleidung. Er griff nach seinem Halsband und zog es über den Kopf. Große Muscheln hingen an einer Schnur aus geflochtenem Hanf. Es waren Fossilien, die Kammuscheln ähnelten — Überbleibsel der Tage, da sich der Himalaja unter Wasser befunden hatte. Was fand der Yeti an ihnen? Ich konnte es nicht sagen. Aber er schätzte sie anscheinend, und sie waren Teil einer Kultur.
Lange Zeit über sah er sein Halsband nur an. Dann legte er es mir sehr vorsichtig über den Kopf, um meinen Hals. Meine Haut brannte schier, so heftig errötete ich, ich sah nur noch verschwommen durch Tränen, meine Kehle schmerzte — ich kam mir vor, als sei Gott hinter einem Baum hervorgetreten und habe mich gesegnet, völlig grundlos, Du verstehst? Ich hatte es nicht verdient.
Ohne weitere Umstände sprang er auf und ging krummbeinig davon, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Ich stand allein im Morgenlicht, und mir war nur das Halsband geblieben, das schwer auf meiner Brust hing. Und ein wunder Arm. Also war es passiert, ich hatte es nicht geträumt. Ich war gesegnet worden.
Nachdem ich wieder einigermaßen zu Sinnen gekommen war, marschierte ich bachabwärts und zum Lager zurück. Als ich dort ankam, steckte das Halsband tief in einer der gefütterten Taschen meiner Jacke, und ich hatte mir eine Geschichte zurechtgelegt.
Phil war bereits da und redete auf die ganze Gruppe ein. »Da bist du ja!« rief er. »Wo, zum Teufel, warst du? Ich dachte schon, sie hätten dich geschnappt!«