Dies war jetzt sein vordringlichstes Ziel, das hatte er erkannt. Gleich morgen früh wollte er seiner Heimatstadt - vielleicht für immer - den Rücken kehren und in Richtung Hamburg aufbrechen.
Als er die Stadt erreichte, hatte er damit gerechnet, daß die Kunde von dem Pistolenduell vielleicht schon die Runde gemacht hatte. Aber Arning, falls er noch lebte, und seine Freunde hatten offenbar dichtgehalten. Unbehelligt erreichte er Meister Eckermanns Haus und legte sich zum Schlafen nieder, ohne eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Ihm war nicht nach Essen, nur nach Schlafen und Ausruhen.
Wie spät mochte es jetzt sein? Und warum war der Schuster, dessen Atem nach Bier und Korn stank, derart aufgeregt?
»Komm endlich zu dir, Junge!« forderte er und hätte bestimmt laut geschrien, hätte er sich nicht aus einem unbekannten Grund zum Flüstern verpflichtet gefühlt. »Du mußt schnell aufstehen und fortlaufen! Der Gendarm ist unterwegs zu dir, um dich festzunehmen!«
»Warum? Wegen des Duells?«
»Was für ein Duell?« fragte der Schuster. »Davon weiß ich nichts. Aber du hast aus dem Hinterhalt auf den jungen Arning geschossen, als er am Abend zum Weiher fuhr, um Enten zu jagen.«
»Wer behauptet das?«
»Er selbst. Er liegt schwerverletzt bei Dr. Pohlmann, ist wohl gerade erst zu sich gekommen. Ich war in der Schenke, als Hannes Melzer, Pohlmanns Nachbar, hereinkam und die Sache erzählte. Er sagte, Gottlob Karst würde sich ein paar Gehilfen zusammensuchen und dann hierherkommen, um das gefährliche und bewaffnete Subjekt zu inhaftieren. Mit dem Subjekt bist du gemeint, Jacob.«
»Aber das Ganze ist eine Lüge!«
»Du hast nicht auf den Sohn des Bierkönigs geschossen?«
»Doch, aber es war ein Pistolenduell, zu dem Arning mich gefordert hatte. Ansbert von Waiden und Peter Jensen können es bezeugen. Sie waren die Sekundanten.« »Sie bezeugen es ja auch, allerdings so, wie Bertram Arning es erzählt. Sie sagen, sie sind dabeigewesen, als du aus dem Unterholz aufgetaucht bist und auf Arning geschossen hast.«
»Das ist ein Komplott!«
»Und wenn schon. Du stehst auf verlorenem Posten, Jacob. Den feinen Herren wird man mehr glauben als dir. Selbst wenn es ein Duell gewesen ist, könnten sie auf die Gnade des Königs hoffen. Ein einfacher Mann wie du aber kaum. Solch ein Mensch hat sich nicht zu duellieren, wird die Obrigkeit sagen.«
»Glauben Sie mir etwa auch nicht, Herr Eckermann?«
Der Schuster rieb sich das Kinn. »Doch, es paßt zu der Sache in Langholz. Aber das ist gleichgültig. Du mußt sofort hier weg! Auch wegen mir und meiner Frau. Sonst werden wir noch beschuldigt, einem Mörder Unterschlupf gewährt zu haben.«
Jacob, der in seine Sachen schlüpfte, hielt plötzlich inne und sah den Schuster an. »Was wissen Sie über Langholz?«
»Nichts. Beeil dich lieber!«
Der junge Zimmermann schüttelte heftig den Kopf. »Erst müssen Sie mir sagen, was Sie wissen!«
»Es sind nur Gerüchte, die man sich erzählt«, antwortete Eckermann ausweichend.
»Was für Gerüchte?«
»Jemand soll ein paar finstere Burschen aus Langholz bestochen haben, damit sie am Dachstuhl der Kirche sägen und sie zum Einsturz bringen. Im Suff soll jemand mit dieser Tat geprahlt und sich darüber beschwert haben, daß der Auftraggeber ihm nicht genug Geld gezahlt hat.«
»Wer ist dieser Auftraggeber?« fragte Jacob und packte den Schuster am Jackenaufschlag. »Etwa Bertram Arning?«
Eckermann nickte mit blassem Gesicht. »Man erzählt es sich, aber es sind nichts als Gerüchte.«
Während Jacob sich weiter anzog, wurde ihm einiges klar. Die Arnings hatten die Sache von Anfang an so geplant, zumindest Bertram. Ob dessen Vater auch sein Mitwisser war, wußte er nicht. Aber Bertram hatte die Kirche absichtlich zum Einsturz gebracht, um Heinrich Adler in Mißkredit zu bringen und mit einem Schuldenberg zu überhäufen. Er hatte die Schuldscheine aufgekauft und dann den letzten Teil seines Plans verwirklicht, die Übernahme des Adlerschen Grundstücks.
Wahrscheinlich belastete es Bertram Arnings Gewissen überhaupt nicht, daß fünf Menschen in der Kirche gestorben waren. Auch der Tod von Jacobs Mutter war ihm zuzuschreiben. Auf einmal tat es Jacob kein bißchen mehr leid, den Sohn des Bierkönigs so schwer verwundet zu haben.
Als er die schnell lauter werdenden, aufgeregten Stimmen hörte, setzte er seine Mütze auf, griff nach seiner großen Tasche und schlüpfte aus der Kammer. Der Schuster folgte ihm.
»Danke für die Warnung und für die Unterkunft.«
»Viel Glück«, flüsterte Eckermann nur und schlug auch schon die Haustür hinter ihm zu.
Allein stand Jacob auf der Uferstraße. Aus der Stadtmitte näherten sich Schritte und Stimmen. Der Trupp des Gendarmen mußte schon vor der letzten Biegung sein.
Jacob lief in die schmale Gasse hinein, die zwischen den Häusern hindurch direkt zum Flußufer führte. Es war der einzige Ausweg, wollte er seinen Häschern nicht direkt in die Arme laufen.
Die Nacht verstärkte die Geräusche; seine Schritte hallten auf dem Pflaster so laut wider, daß er die halbe Stadt zu wecken befürchtete. Er beruhigte sich mit dem Gedanken, daß der Verfolgertrupp noch lauter war und seine Geräusche übertönte.
Er blieb stehen und lauschte. Es waren keine Schritte mehr zu hören, nur noch Stimmen. Offenbar hatten die anderen Meister Eckermanns Haus erreicht und begehrten Einlaß. Der Schuster würde ihnen erzählen, daß er nicht wußte, wann Jacob aufgebrochen sei und wohin. Das verschaffte ihm eine kleine Atempause.
Jacob beeilte sich weiterzukommen. Er erreichte die Elbe und hielt sich im Schatten der zur Brauerei gehörenden Verladeanlagen, als er stadtauswärts am Ufer entlanglief. Hier am Fluß würde er in der Nacht kaum jemandem begegnen. Und je weniger Leute er traf, desto weniger Zeugen gab es auch für die Richtung seiner Flucht.
Flucht!
Dieses Wort hallte in ihm wider wie ein mächtiger Glockenschlag. Voller Hoffnungen war er nach Elbstedt zurückgekehrt. Hoffnungen auf ein erfülltes Leben als Zimmermann, Louisa an seiner Seite. In nur zwei Tagen waren alle Hoffnungen zerstört worden, war aus dem hoffnungsvollen Handwerker ein polizeilich gesuchter Heckenschütze geworden.
Während er an der Elbe entlanglief und die letzten Häuser hinter sich ließ, zerbrach er sich den Kopf über den Grund für die falsche Anschuldigung. Plötzlich kam er darauf, daß es zwei Gründe gab. Daß auch Ansbert von Waiden und Peter Jensen nicht anders gekonnt hatten, als ihn zu verleumden.
In dem Moment, als sie Bertram Arning zum Arzt brachten, mußten sie einen Grund für die Verwundung nennen. Hätten sie von dem Duell erzählt, hätten sie sich selbst in Mißkredit gebracht. Denn der Sekundant wurde vom Gesetz genauso mit Strafe bedroht wie der Duellant. Also hatten sie, vielleicht in Abstimmung mit Arning, als dieser eine klare Minute hatte, das Lügenmärchen von der Entenjagd und dem Attentat erfunden.
Eine Geschichte, die dem Sohn des Bierkönigs gewiß nicht ungelegen kam, konnte er damit dem ihm verhaßten Jacob doch gehörig eins auswischen. Vielleicht ein viel schlimmerer Schlag als die Schußverletzung, die Jacob ihm beigebracht hatte.
Der flüchtende Zimmermann atmete ein wenig auf, als er die ersten Bäume erreichte. Jetzt konnte er nicht mehr so leicht entdeckt werden.
*
Jacob wanderte schnellen Schrittes in Richtung Hamburg, wo er eine Spur seiner Familie zu finden hoffte. Zwar war es mitten in der Nacht, aber die Luft war klar, so daß er die Sterne sehen konnte, die ihm die Orientierung erleichterten.
Irgendwann erreichte er eine Straße und stellte bald fest, daß es die Landstraße war, die über Winsen nach Hamburg führte. Er war schon ein gehöriges Stück hinter Elbstedt und fühlte sich sicher genug, um ihr folgen zu können.
Ein verhängnisvoller Irrtum, wie er erkannte, als er hinter sich schnelles Hufgetrappel hörte. Wer in der Nacht mit solcher Geschwindigkeit ritt und dabei das Risiko einging, daß sein Pferd bei einem Fehltritt stürzte, mußte es sehr eilig haben. Zum Beispiel jemand, der einen flüchtigen Attentäter jagte.