Ohne daß dieses Übel eintrat, erreichte er nach sieben Nächten der Wanderschaft Hamburg. Der Morgen graute bereits, als die Türme und Mauern der Hafenstadt vor ihm auftauchten. Aber an diesem Morgen suchte er keinen Unterschlupf. Hamburg war groß genug, um ihn auch bei Tag zu verschlucken, so hoffte er. Außerdem mußte er sich am Tag in der Stadt bewegen, um eine Möglichkeit zur Einschiffung zu finden.
In der vergangenen Woche hatte er viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Und je länger er darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es ihm, daß sein Vater und seine Geschwister nach Amerika gefahren waren, um mit Onkel Nathans Hilfe eine neue Existenz aufzubauen. Wie oft hatte sein Vater davon gesprochen, den beengten Verhältnissen Deutschlands zu entfliehen und in den Weiten der Neuen Welt ganz neu anzufangen. Der Brief seines Vaters, von dem Louisa leider nur ein kleines Stück hatte retten können, bestätigte das.
Jacob hatte den festen Entschluß gefaßt, seiner Familie zu folgen. Hier hielt ihn nichts mehr. Auch nicht Louisa, die durch ihre Heirat mit Bertram Arning unerreichbar für ihn geworden war. Ganz im Gegenteil, er war jetzt ein gesuchter Verbrecher und ständig in Gefahr, solange er Preußens Grenzen nicht hinter sich ließ.
Zwar würde er sich mit einer Fahrt nach Amerika dem Wehrdienst entziehen, doch nach seiner Erfahrung mit dem Pistolenduell konnte er gut darauf verzichten, mit Waffen auf Menschen zu schießen. Und außerdem würde die Militärkommandantur, sobald er sich meldete, die Gendarmerie benachrichtigen, daß der polizeilich gesuchte Heckenschütze Jacob Adler in ihrem Gewahrsam sei.
Durch die lange Wanderschaft, die mangelhafte Ernährung und die Erkältung, die noch nicht ganz abgeklungen war, mußte Jacob ein sehr zerlumptes Bild abgeben. Doch er fiel in Hamburgs Straßen kaum auf. Hier trieb sich Volk jedweden Standes herum, vom Adligen und hanseatischen Kaufmann bis zum Lohnarbeiter und Straßenbettler.
Jacob faßte neuen Mut, tauchte in der Masse unter und schlug den Weg zum Hafen ein.
*
Jacob war nicht zum erstenmal in Hamburg, aber als er die Hafenanlagen an der Elbmündung erreichte, staunte er wieder einmal über das rege, bunte, laute Treiben, das sich ihm in vielfältigster Ausgestaltung darbot. Fuhrwerke ratterten über das Pflaster, um Waren zu den großen Frachtschiffen zu bringen oder in Empfang zu nehmen. Über riesige, in den Himmel ragende Kräne wurden die Frachträume beladen oder entleert. Lange Kolonnen von Schauerleuten besorgten den Rest. Laute Kommandos wurden auf den Schiffen und den Kais gerufen und wirkten in dem allgemeinen Lärm doch verloren.
Jacob hielt einen grauhaarigen Mann in einem dunklen Rock an und fragte ihn nach dem nächsten Schiff, das nach Nordamerika auslief.
»Das ist die Bark ELSA«, erklärte der ordentlich, wenn auch nicht besonders teuer gekleidete Mittfünfziger. »Wenn Sie die noch erwischen wollen, müssen Sie sich beeilen, Mann. Sie sticht bald in See.«
»Wo finde ich sie?«
Der Grauhaarige zeigte am Kai entlang. »Sehen Sie den Dreimaster dort, um den herum so viel Trubel ist, als würden Goldtaler unters Volk gestreut?«
Jacob nickte. Am Kai hatte sich tatsächlich ein wahrer Volksauflauf gebildet, und die Menschen in ihren bunten Trachten riefen laut durcheinander. Verstärkt wurde das Durcheinander noch durch die dumpfen Töne einer kleinen Blaskapelle, die nicht schön, aber dafür laut spielte.
»Das ist die ELSA. Sie hat ein paar hundert Auswanderer an Bord, darunter eine Hundertschaft aus der Gegend von Schwerin, die von ganzen Dorfbevölkerungen begleitet wird.«
Jacob bedankte sich und setzte sich schnell in der angegebenen Richtung in Marsch.
Er wußte von früheren Besuchen in Hamburg, daß eine Auswanderung oft mit einem wahren Aufmarsch einherging. Die Leute übertünchten die Trauer über den Abschied auf lange Zeit oder sogar auf immer mit allerlei Festivitäten, ähnlich einem Leichenschmaus. Als Junge hatte er mit seinem Vater Hamburg besucht. Beide waren so fasziniert von einem ähnlichen Schauspiel gewesen, daß sie stundenlang, bis zur Abfahrt des Schiffes, am Kai gestanden und zugeschaut hatten.
So lange schien es hier nicht mehr zu dauern. Als Jacob sich durch den Massenauflauf gekämpft hatte, sah er, daß an Bord gerade die Stege eingezogen wurden. Schon näherte sich ein kleiner Schleppdampfer der ELSA, um den Segler aus dem Hafen hinaus auf die offene Elbe zu ziehen.
Jacob rief den Seeleuten an Bord zu und winkte wild mit beiden Händen.
»Was willst du, Bursche?« rief ein stämmiger Maat, der an der Reling stand und die letzten Arbeiten überwachte.
»Ich will mitfahren!«
»Warum bist du denn nicht rechtzeitig an Bord gekommen?«
»Ich wußte ja gar nicht, daß ihr so bald abfahrt.«
»Es wurden doch alle Auswanderer, die auf der Liste stehen, rechtzeitig benachrichtigt.«
»Ich stehe auf keiner Liste.«
»Jeder, der eine Passage gebucht hat, steht auf der Liste.«
»Ich habe noch keine Passage gebucht, will es erst tun.«
»Aber nicht auf der ELSA«, sagte der Maat lachend, und Tränen stiegen in seine Augen. »Da hättest du dich ein paar Wochen früher drum kümmern müssen. Wir sind bis aufs letzte Rattenloch ausgebucht. Versuch es in ein paar Monaten noch mal, wenn wir aus New York zurück sind.«
New York!
Der Name der großen Stadt jenseits des Atlantiks klang in
Jacobs Ohren wie ein Lied, eine Melodie von Ferne und Freiheit. Vielleicht ein Lied, das sein Vater und seine Geschwister längst sangen.
Als der Maat sich abwandte, lachte er noch immer über Jacob, der sich selbst einen Narren schalt. Natürlich mußte er erst bei einem Agenten eine Passage buchen, davon hatte er schon gehört. Aber in seiner Aufregung und Eile hatte er nicht daran gedacht, hatte nur möglichst rasch auf ein Schiff kommen wollen, das ihn nach Amerika brachte.
Amerika!
New York!
Mit diesen kurzen, aber inhaltsvollen Liedern im Kopf, die sogar das laute Tuten der Blaskapelle übertönten, blieb er am Kai stehen und beobachtete, wie der Schlepper an der ELSA festmachte. Der dreimastige Segler zog seinen Anker ein, und die Taue, die ihn mit dem Kai verbanden, wurden gelöst. Endlich war es soweit, und der kleine Dampfer zog die Bark hinaus ins tiefe Fahrwasser des Elbstroms.
Die Auswanderer drängten sich an der Reling zusammen, winkten und riefen, während ihre Stimmen dünner und sie selbst kleiner wurden. Ihre Angehörigen auf dem Kai drängten so nah ans Wasser heran, daß Jacob aufpassen mußte, nicht hineinzufallen.
Er fragte sich, ob seine Familie auch auf so einem Schiff die weite Reise angetreten hatte. Aber vermutlich hatte ihr niemand nachgewunken. Armen Leuten, die keinen Besitz und keine Freunde mehr hatten. Nur noch eine Hoffnung.
Amerika!
*
Jacob verließ den Kai erst, als die Segel der ELSA fast in der Ferne verschwunden waren. Die Angehörigen der Auswanderer harrten noch länger aus, sahen mit ihren liebenden Herzen weiter als er mit seinen Augen.
Er durchstreifte die Straßen von Altona auf der Suche nach einem Schiffahrtsagenten. Hier am Hafen mußten ihre Büros irgendwo zu finden sein. Den Kopf nach oben gereckt, las er die vielfältigen Schilder, die auf Wirtshäuser, Läden, Schiffsausrüster und andere Geschäfte hinwiesen.
Fast ein wenig verloren wirkte dazwischen das kleine Schild über einem Hauseingang, auf dem in geschwungenen schwarzen Buchstaben stand: »Richard Ernst Wiesner - Agent für Schiffspassagen über den Atlantik nach den Vereinigten Staaten von Amerika«.
Jacob jubelte innerlich. Hier war er richtig. Er stolperte fast, als er eilig die Treppenstufen zum Eingang erklomm und laut an die Tür pochte.
»Bitte eintreten, ohne anzuklopfen«, rief ein dünnes Stimmchen aus dem Haus. »Steht doch an der Tür.«