Выбрать главу

»Wieso wird das Schiff denn umgebaut?« wollte Martin wissen. »Hat es auf der Reise Schaden erlitten?«

Der Alte lachte. »Ihr beide habt wohl wenig Ahnung vom Schiffsverkehr, was? Na, dann laßt euch die Sache vom alten Piet Hansen erklären. Wenn die ALBANY von Hamburg nach New York schippert, transportiert sie eine sehr einträgliche Ware, nämlich Auswanderer. Zurück geht das aber schlecht, weil sehr wenige Menschen von den Staaten nach Deutschland auswandern. Auf zehn Menschenkinder, die von hier nach Amerika wollen, kommt allerhöchstens eines, das wieder zurückmöchte. Nicht, weil es allen da drüben so gut gefällt; aber diejenigen, die dort so wenig Glück haben wie in ihrer alten Heimat, überleben ihre Pechsträhne nicht immer oder sind einfach zu arm, um eine zweite Schiffspassage berappen zu können. Wollte man drüben warten, bis man ein Schiff mit Heimkehrern voll hat, wäre der Kahn irgendwann vom Seetang überwuchert, bevor es soweit ist. Also lädt der Käpten auf der Fahrt nach Deutschland andere Fracht, in diesem Fall VirginiaTabak. Nachdem der entladen wurde, werden eine zusätzliche Decke und Schlafstellen in den Frachtraum gebaut, um das Zwischendeck für die Auswanderer herzurichten.«

»Sie kennen sich gut aus«, meinte Jacob.

»Tja, das will ich meinen. Ich habe so manche Fahrt mit der ALBANY gemacht. Diesmal habe ich abgemustert, um mir ein bißchen Landluft um die Nase wehen zu lassen. Aber da der Pott länger hier vor Anker liegt als erwartet, bin ich schwer am Überlegen, mich dem alten Seelenverkäufer noch einmal anzuvertrauen.«

»Ist das Schiff in einem so schlechten Zustand?« fragte Martin besorgt.

»Das Schiff nicht, aber einige der Leute an Bord. Auch der Kapitän ist eine eigene Art Mensch. Ich habe noch kein Schiff kennengelernt, auf dem der Rum so reichlich fließt. Aber mir soll es nur recht sein!«

In der Menschenmenge entstand unerwartete Bewegung, als ein Trupp berittener Polizisten aus einer Gasse sprengte und mitten unter die Leute fuhr.

»Dachte ich's mir doch, daß der alte Haskin Hilfe holt, als das Narbengesicht vorhin von Bord schlich«, brummte der Alte und rieb seinen einstmals schwarzen, jetzt aber von unzähligen grauen Fäden durchzogenen Bart.

»Das Narbengesicht?« wiederholte Jacob.

»So wird Bob Maxwell, der Erste Steuermann, genannt. Ist ein sehr streitsüchtiger Bursche. Seitdem er sich bei einem Messerkampf eine Narbe quer über die linke Wange eingehandelt hat, ist er noch streitsüchtiger geworden. Will sich wohl an jedem rächen, der nicht an seiner Verunstaltung schuld ist.«

»Scheint ja wirklich ein angenehmes Schiff zu sein, dem wir uns anvertraut haben«, meinte Martin griesgrämig.

»Oho, ihr zwei Burschen seid auch an Bord? Vielleicht überlege ich es mir tatsächlich noch. Sieht ganz so aus, als würde es eine hochinteressante Fahrt werden, wirklich.« Der Seebär wandte sich um und stakste kichernd davon.

Jacob und Martin wandten ihre Aufmerksamkeit ganz der unschönen Szene zu, die sich vor der ALBANY abspielte. Als sich ein paar der erregten Auswanderer gegen das Eingreifen der berittenen Polizei empörten, gingen die Uniformierten nur noch rigoroser gegen die armen Menschen vor. Knüppel und Säbel fuhren nieder und rissen blutige Wunden in manches Gesicht.

Angewidert drehte Jacob sich um. »Laß uns abhauen, Martin. Dieses Schauspiel behagt mir nicht.«

Sie gingen davon, während hinter ihnen die Menge auseinandergetrieben wurde. Jacobs Gedanken beschäftigten sich mit der ALBANY und der Frage, ob er und Martin vielleicht das falsche Schiff gewählt hatten. Aber sie hatten ja keine große Auswahl gehabt, zumindest Jacob nicht.

*

Sie verbrachten, nachdem sie ihr Geld gewechselt und letzte Einkäufe getätigt hatten, einen feuchtfröhlichen Abend, um ihren Abschied von der alten Heimat zu feiern. Jacob faßte so großes Zutrauen zu dem aufrichtigen Bauernsohn, daß er ihn in sein Schicksal und in den Grund für die polizeiliche Fahndung nach ihm einweihte.

»Jetzt verstehe ich dich«, sagte Martin. »Ich stehe ganz auf deiner Seite, Jacob. Du hast richtig gehandelt, als du aus Elbstedt geflohen bist. Leute wie wir haben gegen die obere Schicht keine Gerechtigkeit zu erwarten, wenigstens nicht in diesem Land. In Amerika ist das ganz anders. Dort macht das Gesetz keinen Unterschied zwischen Arm und Reich. Und vor allen Dingen, jeder hat dort die Möglichkeit, reich zu werden, er muß nur zupacken können.« Er hob seinen Bierkrug. »Auf Amerika, auf unsere neue Heimat.«

»Auf Amerika«, wiederholte Jacob und stieß mit seinem Freund an.

Etwa zwei Stunden vor Mitternacht trennten sie sich, weil ihre Gasthäuser weit auseinanderlagen.

Als Jacob den »Schwarzen Hirsch« erreichte, war das ein ernüchterndes Erlebnis. Der Wirt hatte ihm das versprochene Zimmer nicht freigehalten. Ganz im Gegenteil, die Gasträume und alle Zimmer, in denen ein Mensch schlafen konnte, quollen geradezu über vor Männern, Frauen und Kindern.

»Sie haben mir doch versprochen, daß ich ein Zimmer hier bekomme!« sagte Jacob erregt zu dem massigen Wirt.

»Es ist nicht meine Schuld«, verteidigte der sich. »Ich weiß noch nicht einmal, ob ich Geld für die Übernachtungen bekomme. Es ist eine Zwangseinweisung, die der Stadtrat angeordnet hat. Notquartier für die Leute, die mit der ALBANY reisen wollen und die keine Unterkunft gefunden haben. Selbst mein Stall ist voller Menschen. Aber vielleicht findet sich dort noch ein Schlafplatz für Sie.«

Der Wirt ging mit einer Laterne voran und führte Jacob zum Stall, wo ihn die zweite unangenehme Überraschung erwartete. Die Menschen lagen so dicht aneinandergedrängt am Boden, daß von diesem kein Fußbreit mehr zu sehen war.

»Auf dem Boden findet keine Ameise mehr Platz«, beklagte Jacob sich, »geschweige denn ein Mensch.«

»Aber dort oben ist noch eine Menge Platz«, entgegnete der Wirt und deutete zur Decke, unter der ein seltsames, riesenhaftes Spinnennetz hing. Es bestand aus dicken Tauen, die man kreuz und quer gespannt hatte, so daß Menschen in den groben Maschen schlafen konnten. Allerdings waren die

Maschen so groß, daß sich Jacob darüber wunderte, keinen der Schläfer herunterfallen zu sehen. Einige hatten sich dann auch mit den Händen in den Tauen verkrallt und schienen in dieser ungewohnten Position tatsächlich schlafen zu können.

»Mehr kann ich nicht für Sie tun, Herr«, sagte der Wirt mit einem entschuldigenden Schulterzucken. »Wenn Sie mit der Scheune vorliebnehmen, müssen Sie auch nur ein Drittel des normalen Übernachtungspreises bezahlen.«

Selbst das war in Jacobs Augen noch zuviel. Aber dann dachte er an seinen schmalen Geldbeutel, der nur noch wenige Taler enthielt, die meisten bereits in Form amerikanischer Währung.

»Also gut«, seufzte er ergeben, und der Wirt wünschte ihm eine gute Nacht, bevor er sich entfernte.

An den Stallwänden hingen ein paar Laternen, die den großen Schuppen in ein dämmriges Licht tauchten. Trotzdem trat Jacob auf seinem Weg zu einem Tau, an dem man zu dem großen Netz hinaufklettern konnte, immer wieder auf menschliche Gliedmaßen. Seltsamerweise beschwerten sich die so Getroffenen kaum. Nur selten war ein leises Murren zu hören. Vielleicht waren sie diese Behandlung schon gewohnt, oder sie waren einfach zu müde und erschöpft.

Jacob ergriff das herunterhängende Tau und kletterte in das Netzwerk hinein, wo er einen freien Platz in der Nähe der Wand entdeckte. Dort ragte ein großer rostiger Nagel hervor, an dem er seine Tasche aufhängte. Dann streckte er sich auf den schwankenden Tauen aus und machte es sich so bequem, wie es unter den gegebenen Umständen ging.

Aber er fand nur einen sehr unruhigen Schlaf. In der Scheune mochten an die zweihundert Menschen liegen. Ihre vielfältigen Geräusche und die schweren Ausdünstungen gaben ihm einen Vorgeschmack von dem, was ihn auf dem Schiff erwartete.