»Ich habe den Burschen zu meinem Cousin geschickt«, sagte Schulz.
»In den >Schwarzen Hirsch<?«
»Ja, August.«
Der Winkelagent hob seine vielen Pfunde überraschend schnell aus dem großen Sessel. »Dann wollen wir keine Zeit verlieren und rasch die Polizei benachrichtigen. Desto eher klingelt die Belohnung in unseren Taschen.«
Auch der Buttjer stand auf, lächelte dünn und überlegte sich bereits, mit welchem Freudenmädchen er das Geld verjubeln wollte. Dann erst fiel ihm ein, daß es ein kleines Vermögen war, das er gar nicht in einer Nacht ausgeben konnte.
Bult schlüpfte in seinen ein wenig zu engen Rock, setzte einen flachen, nicht mehr ganz modernen Hut auf seinen Kopf und griff nach einem knotigen Stock. Dann verließen beide das
Haus und lenkten ihre Schritte zur nächsten Polizeiwache.
*
Jacob schlief so unruhig, daß ihn schon das Quietschen des großen Scheunentors halb aus den schlechten Träumen riß. Die lauten, Kommandos rufenden Stimmen und das Murren der wie Heringe in der Büchse zusammengedrängten Auswanderer, über die schwere Stiefel hinweg stiegen und manch einen unsanft traten, taten ein übriges, ihn vollends zu wecken. Das große Netz, in dem er lag, schwankte, als er sich umdrehte und nach unten sah.
Das Tor war weit geöffnet, und eine Handvoll Männer, teilweise mit Laternen in den Händen, stand darin. Er erkannte drei von ihnen: den Wirt, den Winkelagenten Bult und seinen Mittelsmann Schulz. Die übrigen Männer trugen den Uniformrock der Polizei wie auch diejenigen, die sich durch das Heer der Schlafenden kämpften, um zu dem Tau zu gelangen, an dem man nach oben ins Netzwerk klettern konnte.
Sofort erfaßte Jacob die Situation. Irgendwie waren Bult und Schulz hinter sein Geheimnis gekommen und hatten ihn an die Polizei verraten. Und der Wirt hatte den Uniformierten gesagt, daß Jacob in den Tauen hing.
Die Polizisten, die sich nicht um das wütende Protestgeschrei der von ihnen Getretenen kümmerten, hatten das herunterhängende Tau erreicht, und der erste begann den Aufstieg.
Jacob riß seine Tasche von dem rostigen Nagel und krabbelte über das Tauwerk der jenseitigen Wand zu, wo es in der Höhe des Netzes ein großes Fenster gab. Seine einzige Fluchtmöglichkeit.
Die Schlafgefährten im Netz protestierten jetzt ebenso heftig wie zuvor ihre Leidensgenossen unten, als Jacob und die ihm folgenden Polizisten sie durcheinanderwirbelten. Manch einer verlor den Halt und konnte gerade noch ein Tau umklammern, bevor er hinunterstürzte.
Mit ein wenig Genugtuung stellte Jacob fest, daß er einen Vorsprung vor seinen in dieser Art der Fortbewegung ungeübten Häschern gewann. Der junge Zimmermann hatte schon auf so manchem Baugerüst in schwindelnder Höhe gearbeitet und dabei gelernt, sich geschickt auf schmalen Wegen fortzubewegen. Wenn sie auch niemals so geschwankt hatten wie die Taue, über die er jetzt klettern mußte.
Die Halt-Rufe der Uniformierten mißachtend, erreichte er das Fenster und trat es mit den Füßen ein. Mit seiner Ledertasche fuhr er von innen über den Rahmen, um die letzten Scherben zu beseitigen. Dann warf er die Tasche durch die Öffnung ins Dunkle und sprang einfach hinterher, ohne zu wissen, wo er landen würde.
Jacob fiel auf harten Boden, und durch sein linkes Bein fuhr ein stechender Schmerz. Als er seine Tasche ertastet hatte und aufzustehen versuchte, knickte er mit diesem Bein sofort wieder ein. Er biß die Zähne zusammen und zog sich an der Scheunenwand hoch, als ihn plötzlich kräftige Arme von hinten umklammerten.
»Widersetz dich nicht, Mordbub«, sprach eine harte Stimme dicht in sein Ohr. »Du bist festgenommen.«
Jacob sah blankpolierte Uniformknöpfe im schwachen Licht, das durch das Scheunenfenster fiel, glitzern. Dort, wo die Arme des anderen ihn festhielten.
Wahrscheinlich hatte der Polizist diesen Ort aufgesucht, als er Jacobs Fluchtrichtung im Netz erkannte, und hier einfach auf ihn gewartet. Jacobs an die hier herrschende Dunkelheit nicht gewöhnte Augen hatten ihn zu spät gesehen.
»Hierher!« rief der Beamte jetzt laut. »Kommt hierher. Ich habe die Kanaille!«
»Nicht mehr lange«, zischte Jacob und trat mit dem rechten Absatz so heftig gegen das Schienbein des Polizisten, daß dieser vor Schmerz brüllte und seinen Griff lockerte.
Jacob konnte den linken Arm befreien und den Ellbogen in die Brust des anderen rammen. Das genügte, um sich vollends von ihm zu lösen.
Als der Polizist mit gezogenem Kurzsäbel auf Jacob zukam, riß er seine Tasche am Riemen hoch und schleuderte sie dem Uniformierten ins Gesicht. Das brachte den Mann zu Fall und warf ihn rücklings auf den Boden der schmalen Gasse.
Jacob achtete nicht weiter auf ihn, zumal dessen Kollegen jetzt mit schnellen Schritten um die Ecke bogen. Er hängte seine Tasche um und lief in die einzig mögliche Richtung davon, die Polizei dicht auf den Fersen.
Jeder Schritt bedeutete für den Flüchtenden eine Tortur, da sein linkes Bein beim Auftreten stach, als durchlöcherte es ein Polizist mit seinem Säbel. Jacob versuchte, nicht daran zu denken, als er durch die Gassen der fremden Stadt hetzte, ohne zu wissen, wohin ihn seine Schritte führten. Er humpelte einfach weiter, bemüht, den Abstand zu den Uniformierten zu vergrößern.
Mehrmals mußte er stehenbleiben, um sein schmerzendes Bein auszuruhen und Atem zu schöpfen. Jedesmal hörte er hinter sich die Rufe der Jäger und ihre Schritte, die laut aufs Pflaster klatschten. Einmal waren sie nur noch ganz leise zu hören und beim nächsten Mal ganz verschwunden.
Ungläubig verharrte Jacob in dem dunklen Torbogen, in den er sich zurückgezogen hatte. Aber obwohl er einige Minuten den Geräuschen der Nacht lauschte, vermochte er keinen Hinweis auf seine Verfolger zu entdecken. Er schien es tatsächlich geschafft zu haben, ihnen zu entkommen.
Aber wohin jetzt?
In den »Schwarzen Hirsch« konnte er keinesfalls zurück. Sein erster Gedanke war, zu Martin in die »Goldene Heimat« zu gehen und seinen Freund in das einzuweihen, was ihm widerfahren war. Er wollte schon losmarschieren, als ihm einfiel, daß vielleicht auch dort die Polizei auf ihn lauerte.
Jetzt, wo ihn die Hamburger Polizei mit Vehemenz suchte, konnte er kaum hoffen, als regulärer Passagier auf die ALBANY zu gelangen. Bult würde schon dafür gesorgt haben, daß seine Buchung auf dem Amerikafahrer bei der Polizei bekannt wurde. Aber eine andere Passage konnte er sich nicht kaufen, weil sein Geld nicht mehr reichte. Also mußte er versuchen, irgendwie an Bord der ALBANY zu gelangen. Er hatte die Überfahrt auf der Bark bezahlt und war entschlossen, sie auch wahrzunehmen.
Er schulterte seine Tasche und bemühte sich, wie ein normaler Passant auszusehen, als er den Weg zum Hafen suchte. Ein betrunkener Matrose erklärte ihm lallend und schwankend, als herrsche starker Seegang, wohin er sich zu wenden hatte. Endlich erreichte er die Elbe und steuerte die Stelle an, wo er den Ankerplatz der ALBANY wußte.
Bald sah er die Masten des Schiffes, die sich gegen den etwas helleren Nachthimmel abzeichneten. Aber er sah auch die beiden Polizisten, die am Kai vor dem Schiff standen und auf ihren nächtlichen Dienst schimpften. Beide trugen Gewehre über der Schulter. Also stimmte sein Verdacht, daß Bult der Polizei von seiner gebuchten Passage erzählt hatte.
Bevor die in ihr Gespräch vertieften Ordnungshüter ihn entdecken konnten, verdrückte er sich um die Ecke eines Lagerhauses und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, um sein stechendes Bein zu entlasten. Wieder überlegte er fieberhaft, was jetzt zu tun war.
Im Schutz der Nacht an Bord der ALBANY zu gelangen war aussichtslos. Mochten die beiden Uniformierten durch ihr Gespräch auch abgelenkt sein, er konnte trotzdem nicht an ihnen vorbei. Zu nah standen sie an dem Steg, der aufs Schiff führte.
Sich eine andere Unterkunft zu suchen brachte drei Nachteile mit sich. Erstens schmerzte sein Bein so stark, daß er sich einen langen Fußmarsch nicht mehr zutraute. Zweitens hatte die Polizei vielleicht schon alle Wirtsleute über ihn unterrichtet, so daß er sich in große Gefahr begab. Und drittens hätte er bei Tageslicht zum Hafen zurückkehren müssen und wäre Gefahr gelaufen, dabei von der Polizei entdeckt zu werden.