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Wie vom Donner gerührt blieb er stehen und drehte sich langsam um. Er sah in ein zerfurchtes Gesicht mit einem dunklen Bart, durch den sich viele graue Strähnen zogen. Zwischen den kaum sichtbaren Lippen verschwand der zerkaute Stiel einer klobigen Pfeife.

»Piet Hansen«, murmelte Martin, als er das Gesicht erkannte. »Haben Sie also doch wieder angemustert.«

»Die See ist nun mal meine Heimat«, brummte der Seebär. »Aber allmählich werde ich wohl zu alt dafür. Meine Augen machen schon nicht mehr richtig mit. Vorhin glaubte ich doch zu sehen, wie eine alte Frau vor meinen Augen einfach verschwindet. Seltsam, nicht wahr?«

Martin schluckte und sagte dann: »Wirklich seltsam, Herr Hansen. Vielleicht benötigen Sie etwas Medizin für Ihre Augen.«

»Ich kannte mal einen Steuermann, der meinte, Rum ist die beste Medizin.«

»Man sollte es zumindest ausprobieren«, meinte Martin. »Vielleicht darf ich Sie während der Reise auf den einen oder anderen Schluck einladen?«

»Das ist nett von dir, Junge«, brummte der Alte und schlug ihm dankbar auf die Schulter. »Dafür zeige ich dir auch einen guten Schlafplatz. Kommt mit.«

Als sie unter Deck verschwanden, dankte Martin dem Schöpfer dafür, daß er den Rum nicht vergessen hatte.

*

So war Jacob als blinder Passagier an Bord der ALBANY gelangt.

Mit bangem Herzen lag er unter dem Ruderboot und lauschte dem Treiben auf Deck. Wie schnell konnte er entdeckt werden, wenn eines der herumtollenden Auswandererkinder auf die Idee kam, zum Spaß unter das Boot zu schlüpfen.

Er hörte die Rufe von Menschen, ihre Schritte und dann das Stampfen des Schleppdampfers, das Rasseln der Ankerkette, das Knattern der aufgezogenen Segel. Als der Dampfer genausowenig mehr zu hören war wie die Rufe der Zurückbleibenden am Kai, wußte er, daß die ALBANY aufs offene Meer zusteuerte.

Irgendwann kam die erste Nacht, in der Martin ihm zu essen und zu trinken brachte. Aber er leistete Jacob keine Gesellschaft, wechselte nur wenige Worte mit ihm, um den Freund nicht zu verraten.

So hatte Jacob viel Zeit zum Nachdenken. Er dachte an seine Familie und seine Heimat. Beides hatte er verloren, seine Familie hoffentlich nur auf Zeit.

Aber nicht seine Mutter, die ihm beim letzten Abschied lange mit ihrem weißen Taschentuch nachgewunken hatte. Irgendwann war er einfach weitermarschiert, hatte sich nicht mehr umgedreht, um sie nicht zu lange im Kalten stehenzulassen. Jetzt bereute er das, wünschte sich so sehr, sie noch einmal in die Arme nehmen zu können.

Mit Louisa verhielt es sich seltsamerweise anders. Auch sie hatte er für immer verloren, aber das schmerzte ihn seltsamerweise weit weniger schwer. Vielleicht, weil es Louisas eigene Entscheidung gewesen war, mochte sie sich auch in einer Notlage befunden haben.

Sie hatte ein Leben in Reichtum gewählt, ohne materielle Sorgen. Ob es auch ein glückliches Leben sein würde, das sie an Bertram Arnings Seite führte, bezweifelte er. Aber er wünschte es Louisa aus ganzem Herzen.

Seine Gefühle für den Sohn des Bierkönigs waren weitaus weniger freundlich. Am liebsten wäre Jacob sofort zurück nach Elbstedt gegangen und hätte Bertrams üble Machenschaften aufgedeckt. Aber Jacob war zu klug, um nicht zu erkennen, daß er bei der Obrigkeit kein Gehör gefunden hätte. Er, Jacob, war für sie der Übeltäter, ein hinterhältiger Mordschütze. Alles Schlechte, was er über sein angebliches Opfer verbreitet hätte, wäre ihm als bloße Schutzbehauptung ausgelegt worden. Nein, er konnte sich nicht bei Bertram Arning für das revanchieren, was er Jacob und seiner Familie angetan hatte. Nicht jetzt. Vielleicht eines Tages.

Es gab Stunden, in denen Jacobs Gedanken über den Atlantik vorauswanderten, hinüber in die Neue Welt. Er rief sich ins Gedächtnis, was er über dieses sagenhafte Land gehört hatte. Geschichten von wilden Indianern in bunter Kriegsbemalung, von nicht minder wilden Tieren und von Landschaften, die zu schön und ungewöhnlich waren, um sie zu beschreiben. Flüsse, die breiter waren, als das Auge reichte. Berge, die in den Himmel wuchsen. Ein unendlich weites Land.

Immer wieder fragte er sich, ob er seine Familie dort finden würde. War sie überhaupt nach Amerika gefahren? Die Ereignisse in Hamburg hatten sich für Jacob derart überstürzt, daß er keine Nachforschungen betreiben konnte.

War er auf dem Weg zu seinem Vater und seinen Geschwistern? Oder reiste er mit falscher Hoffnung in die Neue Welt? Nur die Zukunft konnte ihm darauf eine Antwort geben. Die ALBANY durchpflügte das Meer und trug Jacob Adler dieser Antwort entgegen.

ENDE

Und so geht das Abenteuer weiter..

Die Unbill, die Jacob Adler bisher erlebte, war nur ein leichter Vorgeschmack auf das, was ihn an Bord der ALBANY erwartet! Es wird eine Überfahrt geradewegs durchs Fegefeuer. Das Schiff ist überladen und morsch, der Proviant kaum genießbar. Stürme und Wellenberge zerren an der Bark, und einige Offiziere der Schiffsbesatzung sind Unmenschen, die selbst vor Mord und Vergewaltigung nicht zurückschrecken. Als Jacob entdeckt und als blinder Passagier verurteilt wird, erwartet ihn seine ganz persönliche Hölle auf diesem Schiff des Teufels...

STURMFAHRT NACH AMERIKA von J. G. Kastner

Gehen Sie mit Jacob Adler auf große Fahrt - dem Gelobten Land oder dem Tod entgegen.