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»Und zu ihm willst du?«

»Es wäre eine Spur.«

Jacobs Gedanken wanderten zu dem legendären Onkel Nathan, den er persönlich nicht kannte. Aber immer wenn ein Brief von ihm eintraf, was ungefähr alle zwei Jahre der Fall gewesen war, hatte das große geheimnisvolle Land jenseits des Atlantiks für Wochen die Familiengespräche beherrscht.

Jacobs Vater schwärmte von den vielfältigen Möglichkeiten, die Amerika einfachen Leuten bot. Gerade einem Zimmermann, wie er stets betonte. Denn was brauchten die vielen Menschen, die ins Gelobte Land strömten, dringender als Häuser?

Jacobs Mutter holte ihren Mann dann immer auf den Boden der Tatsachen zurück, indem sie ihn daran erinnerte, daß ihr älterer Bruder es nur mit sehr viel Glück geschafft hatte, so reich zu werden und überhaupt zu überleben.

Nathan Berger war Mitte der vierziger Jahre über den Großen Teich gesegelt, als einer von vielen Tausenden, die sich dem »Verein zum Schutz deutscher Auswanderer in Texas«, wegen seiner blaublütigen Gründer und Köpfe im Volksmund »Mainzer Adelsverein« genannt, anvertraut hatten. Das ehrgeizige Unternehmen, in Texas, das erst seit wenigen Jahren von Mexiko unabhängig war, eine deutsche Kolonie zu gründen, scheiterte an der Unfähigkeit der adligen Vereinsvorsteher, die bei ihren Landkäufen auf windige

Spekulanten hereinfielen und gleichwohl immer neue Schiffe mit immer mehr Leuten übers Meer schickten. Ohne Land und finanzielle Unterstützung, vom Adelsverein im Stich gelassen, starben viele der hoffnungsvollen Auswanderer in ihrer neuen Heimat einen qualvollen Tod. Andere schlugen sich auf eigene Faust mehr schlecht als recht durch.

Nathan Berger aber war innerhalb weniger Jahre als Besitzer einer großen Plantage ein gemachter Mann geworden. Wenn seine Verwandten in Deutschland auch nicht wußten, wie er es zu diesem Reichtum gebracht hatte; darüber schwiegen sich seine Briefe, die lieber die Schönheit des Landes und des Lebens auf der Plantage beschrieben, aus.

»Was machst du, wenn die Spur ins Nichts führt?« fragte Louisa.

»Weitersuchen.«

»Es tut mir leid, Jacob, das mit dem Brief.«

»Hat Bertram ihn vernichtet?«

»Ja.«

»Warum? Weil er mich haßt?«

»Möglich. Manchmal tut er solche Dinge.« Ihr Blick wurde noch trauriger. »Da ist noch etwas, was ich dir sagen muß. Aber versprich mir, daß du nicht in unser Haus kommst, um einen Aufstand zu machen.«

Er versprach es, wollte er die Villa Arning doch sowieso nie wieder betreten.

»Es geht um die Langholzer Kirche. Du hast von dem Einsturz gehört?«

»Ja.«

»Vor einigen Tagen war ein Mann aus Langholz in der Villa. Ich kenne seinen Namen nicht, aber sein Gesicht. Er war mit seinen Freunden öfter an Markttagen in Elbstedt. Ich habe sie als üble, zu jedem Streit und jeder Rauferei aufgelegte Gesellen in Erinnerung. Es kam mir seltsam vor, daß er eine Unterredung mit Bertram hatte. Normalerweise verkehrt

Bertram nicht mit solchen Leuten. Ich war neugierig und horchte an der Tür. Ihr Gespräch hatte etwas mit der Kirche zu tun, das konnte ich hören. Dann verlangte der Mann Geld von Bertram. Bertram weigerte sich und sagte, der Langholzer habe schon genug Geld bekommen. Erst als Bertram sehr laut wurde, gab der andere nach und zog unverrichteter Dinge wieder ab. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.«

Jacob überlegte, wofür der Langholzer das Geld bekommen haben konnte. Für eine falsche Aussage? Oder für mehr?

»Bertram ist kein aufrichtiger Mensch«, sagte er. »Warum bleibst du bei ihm?«

»Wir sind verheiratet.«

Er sah ihr lange in die Augen. »Und die vielen Jahre, die wir uns kennen, Louisa. Zählen die nicht? Haben wir uns nicht geschworen, für immer zusammenzubleiben? Bedeutet dir das nichts?«

Sie schluckte und kämpfte die Tränen nieder, die in ihre Augen stiegen. »Wir können nichts mehr ändern, Jacob. Ich -ich trage Bertrams Kind in mir.«

»Bertrams Kind«, wiederholte er langsam und schwieg dann lange. »Seit wann weißt du das?«

»Sicher bin ich mir erst seit gestern.« Sie sah zu der Kutsche hinüber, wo Ernst nervös auf dem Bock hin und her rutschte und immer wieder zu ihnen herübersah. »Ich muß jetzt gehen, Jacob. Bertram braucht nicht zu wissen, daß wir uns hier getroffen habe.«

Ihre Hände umfaßten seine. »Lebe wohl, und alles Gute!«

Er wollte etwas erwidern, aber in seiner Kehle saß ein dicker Kloß.

Stumm sah er Louisa nach, die zur Kutsche ging und sich von Ernst hineinhelfen ließ. Der Kutscher kletterte zurück auf den Bock, warf einen letzten Blick zu Jacob herüber, löste die Bremse und wendete das Gefährt auf dem kleinen Platz vor dem Hauptportal.

»Lebe wohl, Louisa, und alles Gute«, sagte Jacob leise, während die Kutsche davonfuhr.

*

Jacob hatte Meister Eckermanns Angebot, in der kleinen Kammer neben der Werkstatt zu nächtigen, angenommen. Er war noch nicht fertig in Elbstedt, auch wenn es hier nichts mehr gab, was ihn an die Stadt band.

Nach dem Frühstück aus Kaffee, Zwieback und Marmelade trat er hinaus auf die Straße. In der Luft lag der widerlichsüßliche Geruch, den die Brauerei verströmte und der Jacobs ganze Jugend begleitet hatte, seit der Bierkönig seine Fabrik auf dem großen Grundstück am Fluß errichtet hatte. Früher war ihm das nie aufgefallen, weil er daran gewöhnt gewesen war. Aber seit seiner Wanderschaft war es ihm unangenehm.

Schon seit vielen Jahren wollte Conrad Arning das angrenzende Grundstück der Adlers besitzen, um sich zu vergrößern. Er hatte Jacobs Vater mehrere Angebote gemacht, jedes besser als das vorhergehende. Doch Heinrich Adler war ein stolzer Mann, der sich nicht kaufen ließ. Er wollte das Haus nicht aufgeben, das er selbst gebaut hatte und in dem seine Kinder geboren waren, und damit basta!

Jetzt besaß der Bierkönig das Grundstück doch. Jacob fragte sich, ob er es mit redlichen Mitteln erworben hatte. Wenn das Gespräch, das Louisa belauscht hatte, das bedeutete, was Jacob vermutete, hatte zumindest Bertram Arning eine Menge Dreck am Stecken. Ob der alte Arning das wußte?

Pech nur, daß Jacob nichts beweisen konnte. Möglicherweise konnte er in der Brauerei etwas in Erfahrung bringen. Wenn schon nicht über den ominösen Mann aus Langholz, dann vielleicht über den Verbleib seiner Familie. Gustav Vogel hatte den Brief seines Vaters vielleicht nicht nur veruntreut, sondern auch gelesen. Dann konnte er Jacob Auskunft geben über Heinrich Adlers Pläne.

Jacob schien Glück zu haben. Kaum war er auf die Straße getreten, sah er Louisas Vater auch schon. Er wollte rufen, aber Gustav Vogel verschwand mit schnellen Schritten im Lagerhaus. Jacob folgte ihm und betrat das große düstere Gebäude, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen.

Hier drinnen, wo Unmengen von Bierfässern für den Abtransport gestapelt waren, war der durchdringende Geruch fast unerträglich. Er fand Gustav Vogel in einer Ecke, wo er ein paar Männern Anweisungen gab, die mit einem Flaschenzug Fässer auf einen großen Wagen luden.

»Herr Vogel, kann ich Sie sprechen?« fragte Jacob.

Als der untersetzte Mann mit der stets roten Knollennase sich zu ihm umdrehte, war Jacob bereits auf den abweisenden Gesichtsausdruck vorbereitet; zu oft hatte er ihn seit seiner Ankunft in der Stadt gesehen.

»Jacob!« stieß Louisas Vater überrascht hervor. »Was suchst du hier?«

»Sie. Mein Vater hat Ihnen etwas gegeben, das für mich bestimmt war.«

Die dicke Nase behielt ihre rote Farbe. Aber um sie herum wurde das stoppelbärtige Gesicht so weiß wie ein Leichentuch.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, stammelte Vogel.

»Von dem Brief, den mein Vater bei Ihnen für mich hinterlegt hat, weil er Sie für seinen Freund hielt. Wo ist der Brief?«

»Ich weiß nichts von einem Brief.«