»Das ist mir auch gerade aufgefallen. Irgendeine Ahnung, warum sie nicht kämpfen?«
»Sir, ich würde sagen, sie wollen die Einrichtung evakuieren, bevor etwas passiert. Wir hatten ja bereits überlegt, dass es sich um eine Falle handeln könnte.«
Die Verteidiger ziehen sich aus dem Sprenggebiet zurück? »Wozu würden Sie raten, Colonel?«
»Sir, so ungern ich das auch tun möchte, glaube ich, wir müssen den Rückzug antreten und diesen Steinbrocken Atom für Atom scannen, bis wir finden, was die Syndiks hier für uns vorbereitet haben.«
Geary zögerte. Wie sollten sie ihren Weiterflug so lange unterbrechen, bis das erledigt war? Die Flotte würde noch langsamer werden müssen, was noch mehr Treibstoffreserven kostete. Aber er konnte die Marines nicht in eine Situation schicken, die mit jeder Sekunde mehr nach einer tödlichen Falle aussah. »Colonel…«
Plötzlich ertönte hinter Geary eine energische Stimme. »Das ist ein Bluff.« Er drehte sich zu Co-Präsidentin Rione um, die auf ihrem Platz nach vorn gebeugt saß. »Pokert denn keiner von Ihnen? Die Syndiks haben eine Situation geschaffen, die nach einer Falle aussieht. Aber sie haben bislang keinen einzigen Beweis erbracht, dass sie in der Lage sind, die gesamte Anlage zu sprengen. Ganz im Gegenteil, sie lassen alles völlig unversehrt zurück. Wenn wir die Flucht ergreifen, dann haben die ihre Einrichtung gerettet, und wir haben nicht bekommen, wofür wir hier sind. Wenn wir bleiben und alles gründlich durchsuchen, verbringen wir unnötig viel Zeit in diesem System. In jedem Fall holen die Syndiks einen Vorsprung heraus.«
Colonel Carabali wirkte unentschlossen. »Co-Präsidentin Riones Einschätzung klingt logisch, aber…«
»Colonel«, unterbrach Rione sie. »Legen die Syndiks üblicherweise großen Wert auf das Wohl von niederem Personal wie beispielsweise Minenarbeitern?«
»Nein, Madam Co-Präsidentin, das tun sie nicht.«
»Warum haben die Minenarbeiter dann nicht den Befehl erhalten, ihr Leben zu opfern, um die Besetzung der Einrichtung hinauszuzögern und dabei auch noch weitere Marines in die angebliche Falle zu locken? Warum ziehen sie sich in die Minenschächte zurück, wo sie uns nicht mehr stören und wo sie zudem in der Falle sitzen, wenn wir auf die Idee kommen, blindlings in die Schächte zu feuern?«
Mit großer Beherrschung warf Captain Desjani ein: »Bei allem Respekt, aber Sie sind nicht da unten bei den Marines, Madam Co-Präsidentin.«
Mit zusammengekniffenen Augen sah Rione sie an. »Falls Sie denken, ich nehme das Ganze auf die leichte Schulter, möchte ich Sie daran erinnern, dass einige der Marines dort unten Angehörige der Callas-Republik sind. Ich würde sie keinem Risiko aussetzen, wenn ich der Ansicht wäre, dass dort eine Gefahr lauert.«
Carabali grübelte über ihre Worte nach, Desjani ebenfalls. Beide sahen sie Geary an. Schon klar. Rione glaubt an das, was sie sagt. Aber kann ich mich dem anschließen? Immerhin gehört sie nicht dem Militär an. Und sie hat auch nicht das Kommando über die Flotte, weshalb ja auch alle mich so erwartungsvoll ansehen. Ich muss entscheiden. Ich möchte glauben, dass Rione recht hat, weil dann alles so laufen kann, wie ich es mir vorgestellt habe. Aber ist es überhastet von mir, ihr zu glauben? Was, wenn sie sich irrt und das Ganze ist gar kein Bluff?
Dann verlieren wir etliche Marines und alles, wofür wir hergekommen sind.
Aber warum sollen die Syndiks plötzlich so großen Wert auf das Wohl einfacher Arbeiter legen und sie dann in eine hoffnungslose Situation bringen?
Ich muss die Entscheidung treffen. Wenn ich mich irre, sehe ich womöglich etliche Marines sterben. Oder aber ich zwinge die Flotte völlig unnötig dazu, noch mehr Zeit in diesem System zu vertrödeln, während die Syndiks ihre Streitkräfte in den umliegenden Sternensystemen aufstocken.
Vorfahren, gebt mir bitte ein Zeichen.
Falls sie ihn erhört hatten, konnte Geary das Zeichen weder sehen noch spüren. Er schaute zu Desjani und entdeckte in ihrem Gesicht das unerschütterliche Vertrauen, dass er schon richtig entscheiden würde. Wie auch immer die richtige Entscheidung aussah. Rione musterte ihn mit ernster Miene, als wollte sie ihn fast herausfordern, damit er ihr glaubte. Colonel Carabali wartete einfach nur ab, ihre Gesichtszüge waren so starr wie eine Maske, hinter der sie jegliche Gefühlsregung verbarg. Je länger er zögerte, umso wahrscheinlicher wurde es, dass die Ereignisse ihm die Entscheidung abnehmen würden. Er hatte gegenüber diesen Marines die Pflicht und die Verantwortung, sich zu äußern, um deutlich zu machen, wer zur Rechenschaft gezogen wurde, wenn der schlimmste Fall eintreten sollte. Eigenartig daran war, dass Rione für gewöhnlich diejenige war, die ihn vor dem Schlimmsten warnte…
Rione war eine Politikerin, und sie hatte es noch nie gemocht, wenn ein Teil der Flotte ein hohes Risiko einging. Und doch drängte sie ihn zu einer Vorgehensweise, die die Befehlshaberin der Marines und eine seiner treuesten Anhängerinnen dazu veranlasste, zur Vorsicht zu mahnen. Entweder war Rione verrückt geworden… oder seine Vorfahren hatten ihm ein Zeichen geschickt. Durch Rione.
Geary schickte ein Stoßgebet zum Himmel. »Ich glaube, Co-Präsidentin Rione liegt mit ihrer Vermutung richtig. Lassen Sie die Marines da unten und geben Sie ihnen den Befehl, die gesamte Anlage zu besetzen.«
Mit starrer Miene salutierte Carabali. »Jawohl, Sir.« Ihr Schirm verblasste, während sie die Befehle weitergab.
Er senkte den Blick und hoffte, dass er sich nicht zur Eile hatte antreiben lassen und darüber seinen gesunden Menschenverstand vergaß. Als er sich wieder das taktische Display ansah, konnte er mitverfolgen, wie die Marines tiefer in die Anlage vorrückten und ein Bereich nach dem anderen grün aufleuchtete, sobald er von ihnen besetzt worden war.
Nichts war bislang in die Luft gegangen.
Da er der Versuchung nicht widerstehen konnte, rief er das Bild auf, das von der Kamera eines der Marines gesendet wurde. Vor ihm schwebte ein Fenster in der Luft, das ihm zeigte, was der Junioroffizier in diesem Moment sah. Dieser Teil der Anlage befand sich unter freiem Himmel, also bewegten sich die Marines durch einen Bereich ohne Atmosphäre. Ein gelegentlicher Lichtschein erfasste einen Teil eines Ausrüstungsgegenstands, an dem die Marines soeben vorbeigingen, und die exakten Lichtkegel konzentrierten sich nur auf das, was angestrahlt wurde, da sich die Helligkeit ohne Luft nicht ausbreiten konnte. Die Schatten waren im Gegenzug dementsprechend scharf abgegrenzt und tiefschwarz.
Verlassene Anlagen hatten stets etwas Unheimliches an sich und vermittelten das Gefühl, die Vorbesitzer seien eigentlich doch nicht fortgegangen, sondern lauerten irgendwo, wo man sie nicht entdecken konnte, um von dort die Eindringlinge zu beobachten. Da sich im luftleeren Raum so wenig änderte, konnte ein Ort, der erst vor Minuten aufgegeben worden war, dennoch so unheimlich wirken, als sei er bereits seit Jahrhunderten verlassen. War jemand vor einer Stunde noch hier gewesen? Vor einem Tag? Vor hundert Jahren? Obwohl er selbst gesehen hatte, wie sich die Verteidiger noch kurz zuvor durch dieses Gebiet bewegt hatten, wirkte die Anlage hier unter freiem Himmel, als sei sie seit einer Ewigkeit ausgestorben.
Eine luftdicht verschlossene Schleuse tauchte vor dem Offizier auf. Geary verfolgte mit, wie zwei Unteroffiziere eine Vorrichtung an dem Schließmechanismus befestigten, um das codierte Zugangssystem zu überwinden. Waffen wurden auf die Schleuse gerichtet, als die sich langsam öffnete. Ein Marine warf ein kleines Objekt in die Öffnung, dann duckten sich alle, während die magnetische Impulsladung detonierte, um die Schaltkreise von Waffen, Schutzanzügen und Zündern von Sprengfallen durchschmoren zu lassen.
Dann waren die Marines auch schon vorgerückt, bewegten sich durch leere Korridore, traten Türen ein oder sprengten sie auf und hielten die ganze Zeit über Ausschau nach irgendetwas Ungewöhnlichem, das auch nur annähernd nach einer Bombe aussah.