»Bei den Aufzeichnungen, die die Marines in der Bergbaueinrichtung bei Baldur bergen konnten, findet sich einiges interessante Material.«
Diese Nachricht von Lieutenant Iger aus der geheimdienstlichen Abteilung war nicht sehr aufschlussreich, aber Geheimdienstler machten sich immer einen Spaß daraus, unverständlich und rätselhaft zu klingen, als wüssten sie immer etwas mehr als das, was sie einem tatsächlich sagen wollten. In diesem Fall hatte die Methode Erfolg, da sich Geary prompt auf den Weg in die Abteilung machte. »Was haben Sie denn entdeckt?«
Lieutenant Iger und einer von seinen Petty Officers hielten Geary einen tragbaren Reader hin. »Es ist da drauf, Sir«, erklärte Iger.
Er nahm sich das erste Dokument vor. »Liebe Asira…« Das war ein privater Brief. Er überflog den Text, dann auf einmal wurde er langsamer. »Wir bekommen nicht die Ersatzteile, die wir brauchen, um alles am Laufen zu halten. Wir müssen einen Teil der Ausrüstung ausschlachten, damit der Rest weiterhin funktionstüchtig bleibt… Letzte Woche wurden die Rationen wieder knapp… Es gibt Gerüchte über eine neue Welle von Einberufungsbescheiden. Sag mir bitte, dass diese Gerüchte nicht wahr sind… Wann wird dieser Krieg zu Ende sein?«
Er hob den Kopf. »Stammt das aus den Unterlagen der Sicherheitspolizei dieser Einrichtung? Ich nehme an, der Verfasser dieser Zeilen stand unter Arrest.«
Iger schüttelte den Kopf. »Diese Datei war zum Senden vorgesehen, Sir. Die Sicherheitsleute hatten sie bereits weitergeleitet.«
»Sie machen Scherze.« Geary betrachtete wieder den Brief. »Ich nehme nicht an, dass Sie mich zu sich gerufen haben, weil Sie mir sagen wollen, dass es auf den Syndikatwelten viel freier zugeht, als man mich hat glauben lassen.«
Der Lieutenant und der Petty Officer grinsten beide. »Nein, Sir«, antwortete Iger. »Das ist nach wie vor ein Polizeistaat. Aber das ist nur einer von vielen Briefen, die wir alle aus dem Sendespeicher der Syndiks geholt haben, und die meisten von ihnen enthalten ganz ähnliche Aussagen. Wir haben die Namen der Briefeschreiber mit den Dateien verglichen, die die Marines aus der Sicherheitsabteilung geholt haben, und von routinemäßigen Einträgen abgesehen, liegt gegen diese Leute nichts vor.«
»Wieso nicht?« Geary hielt den Reader hoch. »Sind das nicht genau die Äußerungen, für die man auf den Syndikatwelten ins Arbeitslager geschickt wird?«
»Richtig, Sir.« Iger war nun wieder ernst. »Zumindest sollte das der Fall sein. Aber allem Anschein nach wurden in dieser Einrichtung offene Klagen geduldet. Entweder waren die Sicherheitskräfte extrem nachlässig, oder die Unzufriedenheit über die allgemeine Lage hat ein solches Ausmaß angenommen, dass derartige Äußerungen viel zu häufig vorkommen, um sie noch zu unterdrücken.« Er deutete auf den Reader. »Die Dateien aus dieser Einrichtung enthalten auch Briefe von der bewohnten Welt an die Minenarbeiter, die noch nicht zugestellt worden waren. Viele von denen enthalten ganz ähnliche Klagen. Es fehlt an allem, und man macht sich Sorgen, dass mehr Menschen und Ressourcen abgezogen werden, weil der Krieg das erforderlich macht.«
»Wird die Regierung in diesen Briefen offen kritisiert?« Die wenigen Syndiks, denen Geary seit der Übernahme des Kommandos begegnet war, hatten sich alle davor gefürchtet, ein falsches Wort zu sagen oder Kritik an ihrer Führung zu üben.
»Nur in einem, Sir. Die anderen meiden jedes kritische Wort über die Führung der Syndikatwelten.« Iger tippte ein paar Befehle in den Reader ein. »Hier ist diese eine Ausnahme.«
Geary las die Zeilen sorgfältig. »Was denken sich unsere Führer nur? Jemandem müssen gravierende Fehler unterlaufen sein. Aber niemand zahlt dafür, nur du und ich. So kann das nicht weitergehen.« »War der vom Sicherheitsdienst der Anlage markiert worden? Das muss doch der Fall gewesen sein.«
»Nein, Sir.« Iger konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. »Dieser Brief stammt sogar vom Chef der Sicherheit.«
»Das ist ein Witz, oder?« Geary sah sich wieder die Zeilen an. »Ist das nicht vielleicht eine Fälschung? Ein Trick, um uns in die Irre zu führen?«
»Soweit wir das beurteilen können, ist der Brief authentisch, Sir.«
»Ich habe mich mit den Syndiks unterhalten, die von uns gefangen genommen wurden. Sie haben diese Leute ebenfalls verhört. Keiner von denen hat irgendetwas in dieser Art geäußert.«
»Nicht uns gegenüber, Sir«, stimmte Iger ihm zu. »Es ist eine Sache, über so etwas untereinander zu reden. Aber wenn ein Syndik uns gegenüber so etwas erwähnte, dann könnte er nach der Heimkehr auch gleich sein eigenes Todesurteil unterschreiben. ›Haben Sie der Allianz irgendetwas verraten?‹ ›Was haben Sie zu diesen Leuten gesagt?‹ Solche Fragen müssten sie über sich ergehen lassen, und da man vermuten würde, dass sie nicht die Wahrheit sagen, würde man sie… nun… brutalen Verhörmethoden unterwerfen. Und anschließend hätten sie eine Anklage wegen Verrats am Hals.«
Das klang durchaus überzeugend. »Was halten Sie von der Tatsache, dass die Syndiks untereinander offen über die Missstände sprechen, Lieutenant?«
Iger schwieg einen Moment lang und wurde wieder ernst. »Wir haben das durch unsere Sozialanalyse-Systeme laufen lassen und die besagen: Wenn diese Mitteilungen echt sind und zutreffend die öffentliche Stimmung im Baldur-System wiedergeben, ohne dass sie Bestrafungen oder Festnahmen zur Folge haben, dann steht die politische Führung der Syndiks auf tönernen Füßen. Die Belastungen durch den Krieg müssen es immer schwieriger machen, die herrschende Unzufriedenheit mit der Führungsebene totzuschweigen. In einigen Briefen werden offizielle Verlautbarungen zu Siegen der Syndiks über die Allianz diskutiert, und das fast immer in abfälligem Tonfall. Zugegeben, wir haben es hier mit einem einzelnen, vom Hypernet übergangenen Sternensystem zu tun. Anderswo kann die Stimmung durchaus abweichen, was die Zahl der Fälle und die Ausdrucksweise angeht, aber es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass es sich bei Baldur um einen Einzelfall handelt.«
»Bei Sancere haben wir nichts in dieser Art gefunden«, wandte Geary ein.
»Richtig, Sir. Aber Sancere ist — oder besser gesagt: war — ein wohlhabendes System mit etlichen militärischen Schiffswerften, bevor wir das alles in Stücke geschossen haben. Viele Regierungsaufträge, gute Jobs, Ressourcen in rauen Mengen, Anschluss ans Hypernet. Und die meisten Menschen haben in der Rüstungsindustrie gearbeitet, sodass sie keine Einberufung zum Militärdienst fürchten mussten. Da hatte kaum jemand einen Grund, sich zu beklagen.« Lieutenant Igers Miene nahm einen entschuldigenden Ausdruck an. »Ich komme aus einem ganz ähnlichen Sternensystem der Allianz. Marduk. Das Leben in einem solchen System ist richtig gut. Und mit Blick auf diesen Krieg ist es da auf jeden Fall besser als anderswo.«
Geary musterte den Lieutenant. »Trotzdem haben Sie sich der Flotte angeschlossen, anstatt einen dieser krisensicheren Jobs anzunehmen, die Sie vor einer Einberufung schützen?«
»Ahm… ja, Sir.« Iger warf dem Petty Officer einen flüchtigen Blick zu, der schon wieder einen Anlass zum Grinsen hatte. »Die Leute reißen gern Witze, ich sei deswegen auch zum Geheimdienst gegangen, damit niemand etwas von meiner dummen Entscheidung erfährt.«
Diesen Witz hätte Iger auch vor hundert Jahren reißen können, es hätte keinen Unterschied gemacht. Geary konzentrierte sich wieder auf die Briefe von Baldur. »Was schreiben sie über die Allianz?« Sekundenlang herrschte Schweigen, bis Geary die beiden Männer ansah. »Schreiben sie überhaupt irgendetwas über die Allianz?«
Iger nickte betrübt. »In erster Linie wiederholen sie die Syndik-Propaganda, Sir. Einer der letzten Briefe im Speicher wurde verfasst, nachdem unsere Flotte gesichtet worden war, und er ist fast so etwas wie ein Vermächtnis. Es gibt noch einige Nachrichten mehr, die noch nicht vollständig geschrieben und daher nicht gesendet worden waren. Alle Schreiber gehen davon aus, dass wir alles im Baldur-System auslöschen werden, dass wir nicht zwischen zivilen und militärischen Zielen unterscheiden werden. Sie drücken die Sorge um die Sicherheit ihrer Familien aus. Ein Schreiber berichtete von einem Verwandten, der von uns gefangen genommen worden war, und schrieb, er sei von uns ganz bestimmt umgebracht worden. Alles solche Dinge.«