»Propaganda?«, wiederholte Geary. »Lieutenant, ich weiß, dass Allianz-Streitkräfte seit einiger Zeit zivile Ziele bombardieren und dass Gefangene hingerichtet werden.«
Der Offizier schien geschockt zu sein. »Aber das war situationsbedingt, Sir! Es war eine Notwendigkeit. Das war noch nie Allianz-Politik — ganz im Gegensatz zur Syndik-Politik.«
»Der Bevölkerung scheint dieser feine Unterschied nicht deutlich zu sein, Lieutenant.« Geary zeigte auf den Reader. »Diese Leute sind unzufrieden mit ihren Führern, aber vor uns haben sie Angst. Ist das eine zutreffende Einschätzung?«
»Ich… Ja, Sir, das ist möglich.«
»Was folglich bedeutet, dass die Syndik-Bevölkerung ihren Führern weiterhin den Rücken stärkt und den Krieg erträgt, weil sie vor der Allianz Angst hat. Angst, die wir durch unser eigenes Handeln geschaffen haben.«
Schließlich meldete sich der Petty Officer zu Wort: »Aber, Sir, wir haben diese Dinge nur getan, weil wir es mussten.«
Geary versuchte, einen Seufzer zu unterdrücken. »Angenommen, das stimmt zu hundert Prozent, und ich habe keinen Zweifel, dass das Allianz-Personal davon felsenfest überzeugt ist… Wissen die Syndiks das auch? Oder beurteilen die Bewohner der Syndik-Welten uns nach unserem Handeln, aber nicht nach unseren Rechtfertigungen für unser Handeln?«
»Sir«, sagte Lieutenant Iger, der Geary anstarrte. »Sie haben aufgehört, zivile Ziele zu bombardieren und Gefangene zu töten, kaum dass Sie das Kommando übernommen hatten. In jedem Syndik-Sternensystem, das wir durchquert haben, weiß man jetzt, dass die Flotte mit Ihnen als Befehlshaber keine Bedrohung mehr für Heim und Familie darstellt. Woher wussten Sie, wie die Leute denken? Woher wussten Sie, was Sie zu tun hatten?«
Denk dran, dass der Lieutenant, der Petty Officer, dass jeder Mann und jede Frau in dieser Flotte sein Leben lang nichts anders gekannt hat als den Krieg gegen die Syndiks. Denk dran, dass es ihren Eltern ganz genauso ergangen ist. Denk an die Grausamkeiten, die Vergeltungsschläge, die endlosen Provokationen und Racheakte. Denk dran, dass du das nicht durchmachen musstest und dass du kein Recht hast, sie zu verurteilen, nur weil sie anders darüber denken. »Was ich getan habe, tat ich, weil es das Richtige war. Mir wurde beigebracht, dass dies das Richtige ist. Es ist das, was unsere Vorfahren von uns verlangen, was unsere Ehre von uns verlangt. Ich weiß, was Sie durchstehen mussten und was die Allianz im Verlauf dieses Krieges erduldet hat. Unter solchem Druck kann man leicht vergessen, warum man eigentlich kämpft.«
Der Petty Officer nickte betreten. »So wie Sie es uns bei Corvus gesagt haben, Sir. So wie Sie uns das vor Augen geführt haben. Unsere Vorfahren mussten uns wissen lassen, dass wir den verkehrten Weg eingeschlagen hatten, und deshalb haben sie Sie zu uns geschickt, weil sie wussten, wir würden auf Sie hören.«
Na, großartig. Er konnte ihnen nicht mal sagen, was sie einmal gewesen waren, ohne gleich zum Gesandten der Vorfahren erklärt zu werden.
Aber in gewisser Weise war er das sogar geworden, indem er ihnen vermittelte, was er vor hundert Jahren von den Vorfahren gelernt hatte.
Und weil er selbst einer ihrer Vorfahren war. Er dachte nicht gern daran, weil es ihn daran erinnerte, dass seine Welt in der Vergangenheit verschwunden war. Aber es stimmte.
Lieutenant Iger legte eine Faust auf den Tisch und starrte sie an. »Wir müssen die Syndiks davon überzeugen, dass sich die Zeiten geändert haben. Dass wir nicht länger eine größere Bedrohung für sie darstellen als ihre eigenen Führer. Wir können sie davon überzeugen, indem wir es weiter unter Beweis stellen. Richtig, Sir?«
»Richtig«, bestätigte Geary.
»Und wenn ihre Moral zu schwinden beginnt und sie einsehen, dass sie sich nicht vor uns, sondern vor ihren eigenen Anführern fürchten sollten, dann könnte das den Zusammenbruch der Syndikatwelten einleiten.«
»Das ist das Ergebnis, auf das wir nur hoffen können.« Geary spielte mit dem Reader, den er in den Händen hielt. »Halten wir die Augen offen, ob wir noch mehr von dieser Sorte finden, und falls Ihre Systeme irgendeine Idee haben, wie wir Nutzen aus der Unzufriedenheit der Syndiks ziehen können, dann will ich die sofort hören.«
Vielleicht gab es ja tatsächlich einen Silberstreif am Horizont. Die Allianz brauchte nicht darauf zu hoffen, die Syndikatwelten zu besiegen, solange die Syndik-Anführer jederzeit auf die Ressourcen aller angeschlossenen Welten zugreifen konnten. Aber wenn nur ein gewisser Prozentsatz an Welten rebellierte und sich weigerte, Menschen und Ressourcen zur Verfügung zu stellen, dann würde das der Allianz den Vorteil verschaffen, den sie ein Jahrhundert lang vergebens angestrebt hatte.
Während der sechs Tage, die der Flug nach Sendai in Anspruch nahm, gelang es Victoria Rione, einen großen Bogen um Geary zu machen. Der verbrachte die Zeit damit, verschiedene Gefechtsszenarios durchzuspielen, um herauszufinden, wie er den Verlust seiner Schlachtkreuzer vermeiden konnte — jedes Mal ohne Erfolg. Es gab einfach kein glaubwürdiges Argument, mit dem sich diese Schiffe aus einem Kampf heraushalten ließen.
Er war wieder zurück auf der Brücke der Dauntless, als die Flotte den Sprungraum verließ. Die Chancen, dass die Syndiks das Gebiet um den Sprungpunkt vermint hatten oder überhaupt ahnten, die Allianz-Flotte könnte Sendai zum Ziel haben, waren äußerst gering. Dennoch wollte Geary bereit sein zu reagieren, immerhin war es möglich, dass die Syndik-Führer ins Blaue hinein geraten und dabei einen Glückstreffer gelandet hatten.
Sein Magen verkrampfte sich, als der Wechsel zurück in den Normalraum vollzogen wurde. Das matte Grau des Sprungraums verschwand, und die unendlich vielen Sterne tauchten wieder auf.
Geary konnte keine Zeit damit vergeuden, die Aussicht zu genießen, stattdessen erfassten seine Augen das Display und warteten darauf, dass die Sensoren Schiffe oder Minen registrierten.
»Sieht völlig leer aus«, stellte Desjani fest. »Nicht mal ein Ein-Mann-Empfangskomitee. Sie hatten recht, Sir. Die Syndiks haben nicht geahnt, dass wir Kurs auf Sendai nehmen würden.« Sie warf ihm ein bewunderndes Lächeln zu.
»Danke«, murmelte Geary voller Unbehagen. »Gibt es nicht mal Satelliten, die das System überwachen?«
»Nein, Sir«, meldete ein Wachhabender. »Aus gutem Grund.« Er zeigte auf die Mitte des Displays und machte einen nervösen Eindruck.
Normalerweise war das Display so ausgerichtet, dass sich der jeweilige Stern in der Mitte befand, da er dasjenige Objekt war, das genug Masse besaß, um den Raum ringsum zu verzerren und die Bedingungen zu schaffen, die für Sprungpunkte unverzichtbar waren. Sendai war auch einmal ein solcher Stern gewesen. Ein sehr großer Stern. Vor vielen Millionen Jahren hatten ihn zweifellos zahlreiche Planeten umkreist.
Bis er explodierte und zu einer Supernova wurde, die die Planeten ringsum in verkohlte Trümmerstücke verwandelt hatte, ehe sie in sich zusammenfiel und alle Materie, aus der Sendai bestand, immer fester zusammenpresste, bis die Masse einer riesigen Sonne zu einem Materieklumpen von der Größe eines kleinen Planeten verdichtet worden war. Dessen Schwerkraft war so gewaltig, dass nicht einmal das Licht ihm entkommen konnte.
Captain Desjani nickte, dann schluckte sie ebenfalls nervös. »Das Schwarze Loch.«
Dort, wo die Überreste von Sendai weiterhin existierten, war mit dem bloßen Auge nichts zu erkennen. Auf den Displays dagegen waren deutlich zwei eng gebündelte Strahlen zu sehen, die aus dem Nord- und dem Südpol des toten Sterns austraten und ungeheure Strahlung ins All abgaben — die Todesschreie der Materie, die mit unvorstellbarer Geschwindigkeit in das Schwarze Loch gezogen wurde.