Dann endlich begriff er. »Ihr Ehemann. Sein Name steht auf der Liste?«
Sie hatte die Fäuste geballt und zitterte unübersehbar. »Ja.«
»Aber Sie sagten, er ist tot.«
»Die, die von dem Schiff entkommen konnten, sagten mir, er sei gestorben!«, brüllte sie, doch Geary wusste, es war nicht gegen ihn gerichtet. Indem sie mehrere Male tief durchatmete, kam sie wieder zur Ruhe. »Aber auf der Liste stehen sein Name und seine Identitätsnummer. Es ist vermerkt, dass er zwar mit schweren Verletzungen, jedoch lebend gefangen genommen wurde.«
Er wartete einen Moment lang, doch sie sagte weiter nichts. »Das ist alles?«
»Ja, das ist alles, John Geary. Ich weiß, die Syndiks haben ihn lebend gefasst, und er war schwer verletzt. Ich weiß nicht, ob er am nächsten Tag noch gelebt hat, und ich weiß nicht, ob die medizinische Behandlung durch die Syndiks ihm das Leben gerettet hat. Ich weiß nicht, ob man ihn in ein Arbeitslager schickte. Ich weiß nicht, ob er danach gestorben ist.« Sie hielt kurz inne. »Ich weiß es einfach nicht.«
Victoria Rione, die sich sonst so gut im Griff hatte, strahlte nun Schmerz aus. Geary ging zu ihr und drückte sie an sich, wobei er ihr Zittern deutlich spüren konnte. »Es tut mir leid. Verdammt, es tut mir leid.«
Ihre Stimme klang jetzt ein wenig erstickt. »Ich weiß nicht, ob er noch lebt oder ob er tot ist. Wenn er irgendwie überlebt und man ihn irgendwo in ein Arbeitslager gesteckt hat, dann sind meine Chancen, ihn jemals wiederzusehen, so verschwindend gering, dass sie praktisch gar nicht existieren. Aber er könnte noch leben. Mein Ehemann… der Mann, den ich immer noch liebe.«
Und erfahren hatte sie das wenige Wochen, nachdem sie zum ersten Mal das Bett mit ihm geteilt hatte. Die gehässige Ironie, die dahintersteckte, ließ Geary darüber nachdenken, warum die lebenden Sterne Rione so etwas angetan hatten. »Okay, Sie müssen nicht weiterreden.«
»Doch, das muss ich. Nachdem ich seinem Andenken zehn Jahre lang treu geblieben war, gebe ich mich Ihnen hin, und dann muss ich erfahren, dass er vielleicht doch noch lebt.« Sie schob Geary von sich weg und schaute zur Seite. »Das Schicksal kann schon grausam sein, nicht wahr? Ich dachte, ich hätte mich richtig verhalten, John Geary. Ich dachte, ich hätte meinen toten Ehemann geehrt und das getan, was er von mir erwarten würde. Und jetzt muss ich feststellen, dass ich ihn womöglich entehrt habe. Ich mich selbst auch, aber vor allem ihn.«
»Nein«, antwortete er ohne nachzudenken, weshalb er innehalten musste, um erst das zu ordnen, was er sagen wollte. »Sie haben niemanden entehrt. Antworten Sie ehrlich: Wenn wir ihn im nächsten Sternensystem in einem Arbeitslager entdecken sollten, werden Sie sich dann wieder für ihn entscheiden, oder werden Sie bei mir bleiben?«
»Ich würde mich für ihn entscheiden«, gab sie ohne zu zögern zu. »Es tut mir leid, John Geary, aber das ist die Wahrheit, und daran wird sich auch nie etwas ändern. Ich habe Ihnen gesagt, wem mein Herz immer gehören wird.« Rione atmete wieder tief durch, um ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. »Desjani weiß es auch. Sie entdeckte den Namen meines Mannes auf der Liste und kam zu mir, weil ihr Pflichtgefühl von ihr verlangte, es mir zu sagen. Ihre Captain Desjani ist ein sehr pflichtbewusster Mensch. Sie fühlte auch mit mir, obwohl ich ihr das zu dem Zeitpunkt nicht abnehmen wollte. Und sie war schockiert, als ich erwiderte, dass ich seinen Namen ebenfalls gesehen, aber Ihnen noch nichts davon gesagt hatte.« Sie sah ihm in die Augen. »Sie fand, ich sollte es Ihnen nicht verschweigen. Sie wollte nicht, dass Ihnen wehgetan würde, wenn Sie es herausfänden.«
Es gab keinen Grund, Riones Worte anzuzweifeln. Es hörte sich exakt nach dem an, was Desjani tun würde. »Und als Sie sich weigerten, es mir zu sagen…«
»Sie wollte mein Geheimnis nicht verraten. Nicht die ehrbare Captain Desjani.« Rione verzog kopfschüttelnd den Mund. »Sie verdient es nicht, dass ich so von ihr rede. Sie hat nur versucht, Sie zu beschützen. Tanya Desjani ist eine ehrbare Frau. Wenn es eine Frau gibt, die Sie verdient hat, dann sie.«
»Was?« Die Unterhaltung hatte deutlich zu schnell eine andere Richtung eingeschlagen. »Die mich verdient hat? Sie ist eine von meinen Untergebenen. Sie hat noch nie auch nur die leiseste Andeutung gemacht, dass…«
»Und das wird sie auch nicht«, unterbrach Rione ihn. »Wie ich sagte: Sie ist ehrbar. Selbst wenn sie ihre eigene Ehre aufs Spiel setzen müsste, würde sie Ihre Ehre niemals in Gefahr bringen. Ich dagegen bin eine Politikerin. Ich benutze Leute. Ich habe Sie auch benutzt.«
»Sie haben mir keine Versprechen gegeben«, wiederholte Geary ihre Worte. »Verdammt, Victoria, soll ich mich jetzt betrogen fühlen? Sie sind doch diejenige, die von ihren Gefühlen zerrissen wird.«
»Sie wurden von mir dazu verleitet, das Bett mit einer Frau zu teilen, deren Ehemann vielleicht noch lebt!«, fuhr Rione ihn an und verlor abermals die Beherrschung. »Ich habe Ihre Ehre besudelt und Sie für Ihre Feinde angreifbar gemacht! Warum können Sie sich darüber nicht aufregen?«
»Wer weiß noch davon?«, fragte er erschrocken.
»Ich…« Rione machte mit einer Hand eine wütende Geste. »Sie, ich, die ehrbare Captain Desjani. Das ist jedenfalls sicher. Andere könnten auf die gleiche Information gestoßen sein und warten jetzt darauf, sie dann öffentlich zu machen, wenn sie Ihnen am meisten schaden wird. Davon müssen Sie ausgehen. Und Sie müssen damit rechnen, dass früher oder später Ihre Ehre meinetwegen infrage gestellt werden wird.«
»Ich glaube mich daran erinnern zu können, wie Sie mir sagten, Sie könnten selbst auf Ihre Ehre aufpassen. Ich kann das auch.«
»Meinen Sie?« Rione atmete tief durch. »Wenn ich dafür als Beispiel dienen soll, dann geben Sie kein sehr überzeugendes Bild ab. Warum versuchen Sie, mich zu verteidigen?«
»Weil kein Mann, der etwas taugt, Ihnen diesen Fehler vorhalten wird…«
»Kein Mann? Sprechen Sie jetzt auch für meinen Ehemann, John Geary?« Rione sah ihn finster an. »Was sollte ich ihm sagen? Was soll ich meinen Vorfahren sagen? Seit ich davon erfuhr, habe ich nicht mehr mit ihnen gesprochen. Wie könnte ich das auch?«
Sekundenlang sah Geary sie schweigend an. »Wollen Sie, dass ich ganz ehrlich bin?«
»Ja, warum auch nicht? Wenigstens einer von uns sollte ehrlich sein«, antwortete Rione verbittert.
»Dann werde ich Ihnen ein paar Dinge erzählen.« Er sprach mit fester Stimme, so als würde er auf der Brücke einen Befehl erteilen. »Erstens ist meine Ehre nicht besudelt worden. Und das gilt auch für Ihre Ehre. So etwas wäre nur möglich, wenn wir wissentlich etwas Unehrenhaftes getan hätten.«
»Das ist nicht…«
»Mir ist egal, wie die Leute das heutzutage sehen! Vor hundert Jahren haben die Menschen das verstanden! Ist das Leben nach hundert Jahren Krieg nicht schon schwer genug? Müssen Sie es sich noch schwerer machen, indem Sie Maßstäbe anlegen, die kein Mensch erreichen kann?« Rione starrte ihn an. »Ich habe kein Recht, Ihnen zu sagen, wie Sie empfinden sollen, aber ich sage Ihnen, dass ich so empfinde. Zweitens«, fuhr er fort, »helfen Sie niemandem, wenn Sie sich selbst geißeln. In einem vollkommenen Universum könnten Sie so unglaublich loyal sein, wie Sie es von sich erwarten. Aber nicht in diesem Universum.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das wird weder meinen Mann noch meine Vorfahren trösten.«
»Und wenn die Rollen vertauscht wären?«, fragte Geary. »Angenommen, Sie wären schwer verletzt worden, man würde Sie für tot halten, und Sie würden für immer von Ihrem Mann getrennt sein. Was würden Sie sich dann wünschen?«
Rione hielt lange Zeit den Blick gesenkt und schwieg. Schließlich schaute sie ihn wieder an. »Ich würde mir wünschen, dass er glücklich ist.«
»Selbst wenn das bedeuten würde, dass er sich eine neue Partnerin nimmt, wenn er davon überzeugt ist, dass Sie tot sind?«