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Jetzt jedoch kamen ihm erneut Zweifel. Die Ehre konnte eine Last und ein Schwert sein. Sie ließ sich allzu leicht missbrauchen. Und wie es schien, benutzten die Menschen in dieser Gegenwart — die hundert Jahre von seiner eigenen entfernt war — die Ehre als eine Waffe, die sie gegen sich selbst richten konnten. Ehre war für sie so unerbittlich und unbeugsam, dass sie ihnen genauso schaden konnte wie ihre Feinde.

Geary seufzte und zog sich leise an. An der Tür blieb er stehen und sah zu Rione hinüber. Ich habe so viele Schmerzen erlitten, weil ich wusste, dass jeder tot war, den ich einmal gekannt und geliebt hatte. Aber wie vielen Menschen in der Allianz ergeht es so wie Victoria Rione? Wie viele von ihnen wissen nicht, ob geliebte Menschen noch leben oder schon tot sind? Wie viele von ihnen sind von dieser Ungewissheit innerlich zerrissen? Zum ersten Mal wurde ihm deutlich, dass die grausame Gewissheit, mit der er sich hatte abfinden müssen, zumindest einen Vorteil hatte: Er musste nicht zweifeln, er musste nicht hoffen. Er wusste, alle waren tot.

Er streifte durch die ruhigen Gänge und Abteile der Dauntless, grüßte die Besatzungsmitglieder, die in der tiefen Schiffsnacht ihren Wachdienst verrichteten, und versuchte, Trost in den Ritualen seines Kommandos zu finden.

Als er um eine Ecke bog, musste er feststellen, dass Captain Desjani genau das Gleiche machte wie er.

»Captain Geary?« Sie machte keinen Hehl aus ihrer Verwunderung. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, mir geht es gut.«

Sein Tonfall und sein Gesichtsausdruck mussten etwas anderes über ihn aussagen, da Desjani den Mund verzog. »Haben Sie mit Co-Präsidentin Rione gesprochen?«

Er nickte nur.

»Ich hatte gedacht…« Desjani hielt inne und fing noch einmal von vorn an. »Ich war sehr wütend auf sie, was Sie ja auch gemerkt haben. Ich dachte, sie wollte es Ihnen nicht sagen, weil es ihr an Ehre mangelt. Ich wusste nicht, dass sie in Wahrheit von ihrer Ehre innerlich zerrissen wurde.«

»Wie ist es wirklich gelaufen? Haben ihre Vorfahren sie tatsächlich verstoßen?«

Desjani ließ den Kopf sinken und dachte nach. »Ich habe etwas gespürt. Ich weiß nicht, was es war. Aber sie waren dort. Doch ich glaube, sie wollte das nicht akzeptieren.«

»Ja, den Eindruck hatte ich auch.«

»Sie… ähm…« Desjani wirkte verlegen und verärgert zugleich. »Vor Kurzem sah ich sie wieder. Sie hatte getrunken, und sie sagte ein paar Dinge.«

»Ja, ich weiß.«

»Sir, ich hoffe, ich habe nichts getan oder gesagt, das Sie auf den Gedanken bringen könnte, ich würde…«

Er hob eine Hand, um ihren Redefluss zu unterbrechen. »Sie haben sich absolut professionell verhalten. Ich könnte mir keinen besseren Offizier vorstellen.«

Dennoch wirkte Desjani beunruhigt. »Selbst wenn Sie keine wichtige Mission zu erfüllen hätten, selbst wenn die lebenden Sterne Sie nicht in der Stunde unserer größten Not zu uns geschickt hätten, wäre es dennoch verkehrt von mir, wenn ich…«

»Captain, bitte.« Geary hoffte, dass er sich nicht so aufgewühlt anhörte wie sie. »Ich verstehe das schon. Wir müssen das nicht wieder diskutieren.«

»Es kursieren Gerüchte, Captain Geary«, presste sie heraus. »Gerüchte, die Sie und mich betreffen. Ich bin darauf aufmerksam gemacht worden.«

»Gerüchte, die jeglicher Grundlage entbehren, Captain Desjani. In die Welt gesetzt von Offizieren, denen das Prinzip der Ehre fremd ist. Ich werde mich in Ihrer Gegenwart so professionell verhalten, wie ich nur kann, und ich bin davon überzeugt, Sie werden es ganz genauso machen.«

»Ja, Sir. Vielen Dank, Sir. Ich wusste, Sie würden das verstehen.« Sie nickte erleichtert, salutierte und ging dann weiter. Geary sah ihr nach und wusste, das Thema würde immer über ihnen schweben, ob sie nun darüber redeten oder nicht.

Schließlich führte ihn sein Spaziergang zurück zu seiner Kabine. Rione lag noch immer im Tiefschlaf, also setzte er sich an seinen Schreibtisch und rief wieder die Simulationen auf. Drei Tage lang würden sie sich noch im Daiquon-Sternensystem aufhalten, dann nahm die Allianz-Flotte Kurs auf Ixion.

Sollten sie wirklich nach Ixion fliegen? Die Syndiks hatten immerhin seinen nächsten Zug so gut vorausgeahnt, dass sie in letzter Minute begonnen hatten, in diesem System Minen zu legen. Was erwartete sie bei Ixion?

Doch die Alternativen waren nicht sonderlich verlockend. Außerdem hatten sie die Syndiks damit überraschen können, dass sie so früh in Daiquon eintrafen. Wenn die Allianz-Flotte schneller vorankam, als die Syndiks reagieren konnten, würde es sogar möglich sein, dass sie Ixion passiert hatten, bevor der Gegner eine Blockade errichten konnte.

Oder auch nicht. Laut der neuesten Syndik-Daten, die sie bei Sancere in ihren Besitz gebracht hatten, wartete Ixion mit einer bewohnten Welt und mehreren im System verteilten Kolonien und Einrichtungen auf, die alle noch aktiv sein konnten. Sicher war, dass es sich nicht um ein ungenutztes oder verlassenes System handelte.

Wenn sie Ixion erreichten, musste er seine Flotte einsatzbereit haben. Es war davon auszugehen, dass der Sprungpunkt vermint war und dass die Syndiks nur darauf lauerten, sie anzugreifen. Also musste seine Flotte in der Lage sein sein, einer solchen Gefahr begegnen zu können.

In der Theorie klang das nach einer Selbstverständlichkeit, doch er wünschte, er wüsste, wie er das in die Tat umsetzen sollte.

Schließlich schlief Geary in seinem Sessel ein. Wäre Rione bloß aus ihrem Rausch aufgewacht, dann hätte sie ihm einen Ratschlag geben können.

* * *

Als er aufwachte, schmerzte sein ganzer Körper, da er im Sessel geschlafen hatte. Rione lag noch in seinem Bett, sie war wach und starrte an die Decke. Wortlos stand er auf, ging zum Waschbecken und brachte ihr ein paar Kopfschmerztabletten und ein Glas Wasser.

Sie nahm beides an, mied es jedoch, ihn anzusehen. Erst als Geary sich wieder hingesetzt hatte, sagte sie: »Ich erinnere mich nicht an alles, was ich letzte Nacht gesagt habe.«

»Das ist vermutlich auch besser so«, meinte er in neutralem Tonfall.

»Und ich erinnere mich auch nicht an alles, was ich letzte Nacht getan habe.«

»Wir beide haben nichts getan, wenn Sie darauf anspielen.«

Rione nickte seufzend und verzog dann die Mundwinkel, da die Bewegung offenbar Stiche in ihrem Kopf verursachte. »Danke. Wenn Sie jetzt bitte so freundlich wären, sich wegzudrehen. Ich werde meine Kleider und meinen letzten Rest Würde zusammenklauben, damit Sie nicht länger mit meiner Anwesenheit behelligt werden.«

»Und wenn ich mich nicht wegdrehen will?«

»Zeigen Sie so viel Anstand, John Geary. Außer natürlich, Sie wollen sich an meiner Nacktheit erfreuen. Ich habe kein Recht, Ihnen dieses kleine Vergnügen zu verweigern.« Sie sah so niedergeschlagen aus, wie sie sich anhörte.

Geary spürte, wie in ihm Wut auf sie aufstieg, die er zu unterdrücken versuchte, bis ihm klar wurde, dass er mit Mitgefühl bislang gar nichts erreicht hatte. »Okay, Madam Co-Präsidentin, vielleicht habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt.« Rione stutzte, als sie seine schroffe Stimme hörte. »Mir ist egal, wie Sie im Moment über sich denken. Ich für meinen Teil bin enttäuscht, dass jemand von Ihrer Intelligenz und Ihren Fähigkeiten sich in Selbstmitleid ergeht, wenn ich dringend einen guten Ratschlag gebrauchen kann, damit diese Flotte überlebt und damit ich einen klaren Kopf bewahre. In weniger als drei Tagen springen wir nach Ixion, und ich habe keine Ahnung, was uns dort erwartet. Sind Sie zu der Ansicht gelangt, dass Black Jack Ihre Hilfe nicht länger benötigt, damit er die richtigen Entscheidungen trifft?«