Spencer drückte auf den Sendeknopf: „Vancouver, hier ist Flug 714. Ich habe Ihre Meldung verstanden - aber es ist undurchführbar, fürchte ich. Der Doktor sagt, es besteht keine Aussicht, daß einer der Piloten wieder soweit zu sich kommt, daß er landen kann. Er sagt, die beiden seien jetzt in der Krise und würden sterben, wenn sie nicht bald in eine Klinik eingeliefert werden. - Bitte kommen."
Jetzt entstand eine kleine Pause. Dann: „Vancouver Control an 714. Ihre Meldung verstanden. Bitte warten Sie."
„Verstanden, Vancouver", bestätigte Spencer und ließ den Sendeknopf los.
„Jetzt können wir nichts anderes tun als warten", sagte er zu Janet, „während die da unten nachdenken, was sie machen sollen."
Nervös spielten seine Hände mit dem Steuer, sacht seinen Bewegungen folgend. Er versuchte, sich seine fliegerische Erfahrung in Erinnerung zu rufen, die ihm damals in seiner Einheit einen ganz guten Ruf eingebracht hatte. Dreimal war er mit zerschossener Maschine - und mit einem Gebet -heimgekommen. Als er sich diese Zeit wieder ins Gedächtnis rief, lächelte er unwillkürlich. Aber im nächsten Moment schon starrte er ernüchtert auf die Unzahl sich bewegender Zeiger, unbekannter Anzeigegeräte und Schalter. Er fühlte sich von eisiger Verzweiflung gepackt. Was hatte seine einfache Fliegerei damit zu tun? Ihm war, als säße er in einem U-Boot, umgeben von ungezählten Anzeigegeräten und Instrumenten -wie in einem Zukunftsroman. Eine falsche oder ungenaue Bewegung konnte das Flugzeug innerhalb von einer Sekunde aus dem Gleichgewicht bringen. Wer konnte ihm - wenn das einträte - sagen, wie er die Maschine wieder in die Hand bekäme? Alles sprach dafür, daß er es nicht könnte... Diesmal waren auch keine Hurricanes in der Nähe, die ihn nach Hause begleiteten.
Spencer verfluchte das Hauptbüro, das ihn in diesen Schlamassel hineingetrieben hatte. Die Aussicht auf den Posten des Verkaufsdirektors und auf ein Haus an den Parkway Hights erschien ihm jetzt absurd und gänzlich unwichtig. Sollte es so ein Ende nehmen? Er könnte Mary nicht mehr sehen. Er könnte ihr auch nicht mehr die vielen unausgesprochenen Dinge sagen... Dasselbe galt für Bobsie und Kit. Die Lebensversicherung würde nicht weit reichen. Er hätte mehr für die armen Kinder tun sollen - für die besten Kinder der Welt... Eine Bewegung an seiner Seite unterbrach ihn in seinen Gedanken. Janet kniete auf dem Sitz und schaute nach hinten, wo Captain und Copilot still auf dem Boden lagen.
„Ist einer davon Ihr Freund?" fragte er. „Nein", sagte Janet zögernd, „eigentlich nicht... "
„Reden wir nicht davon", sagte Spencer mit einem Würgen in der Stimme. „Ich versteh' schon. Tut mir leid, Janet." Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und suchte nach Streichhölzern. „Ich glaube, das Rauchen ist hier verboten - aber vielleicht sieht die Luftlinie gütigerweise einmal drüber hinweg." Im schwachen Schein des Streichholzes sah Janet in seinen Augen Ärger aufglimmen...
03 Uhr 00 - 03 Uhr 25
Mit anschwellendem Motorenlärm startete in Vancouver die letzte nach Osten fliegende Maschine in dieser Nacht. Sie raste mit wachsender Geschwindigkeit über den nassen, schimmernden Beton der Startbahn und stieg hinauf in die Dunkelheit. Die Positionslichter des Flugzeugs verschwanden im Nebel, als es den ihm vorgeschriebenen Kreis um den Flugplatz beschrieb. Einige andere Flugzeuge, die zurückgehalten worden waren, standen, mit Feuchtigkeit überzogen, längs des Abfertigungsgebäudes nebeneinander. Das Pistenpersonal verrichtete in gelbem Licht seine Arbeit. Die Männer schlugen die behandschuhten Hände um ihre Körper, um sich warm zu halten. Keiner von ihnen sprach mehr, als unbedingt nötig war.
Langsam rollte ein Flugzeug näher, stoppte und schaltete auf ein Zeichen des mit den Winkern vor ihm stehenden Mannes die Motoren ab.
Das Zischen der Propeller wirkte in der plötzlich eingetretenen Stille aufdringlich. In Vancouver schien alles nach dem eingespielten Schema zu verlaufen, und dennoch bereitete man sich auf den zu erwartenden Notfall vor.
Im hell erleuchteten Kontrollraum herrschte gespannte Konzentration. Der Kontrolleur legte den Telefonhörer auf die Gabel, zündete sich eine Zigarette an und hüllte sich in blaue Rauchschwaden, während er die Landkarte studierte.
Dann drehte er sich zu Burdick um. Der Manager der Maple Leaf Airline saß auf einer Tischecke und beendete gerade die Lektüre einer Meldung, die er in der Hand hielt.
„... richtig, Harr/', sagte der Kontrolleur. Sein Tonfall war so, als spreche er zu sich selbst und nicht, um die anderen zu informieren. „Von jetzt an sperre ich alle Starts nach Osten. Wir haben fast noch eine Stunde Zeit, in der wir die Maschinen nach den anderen Richtungen rauslassen können. Anschließend müssen alle planmäßigen Abflüge warten, bis... bis nachher."
Das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab: „Ja? - Aha. Benachrichtigen Sie alle Stationen und Flugzeuge, daß wir nur noch die während der nächsten 45 Minuten hereinkommenden Maschinen annehmen können. Leiten Sie alles um, was später ankommt. Jeder Verkehr muß von der Ost-West-Linie zwischen Calgary und hier ferngehalten werden. Haben Sie das? Gut." Er warf den Hörer auf die Gabel und wandte sich an einen Assistenten, der ebenfalls vor einem Telefon saß. „Haben Sie den Chef der Feuerwehr geweckt? Rufen Sie bei ihm zu Hause an und sagen Sie ihm, er soll zu uns herauskommen. Es riecht nach einem großen Schauspiel. Und bitten Sie den diensthabenden Feuerwehroffizier, die Stadtfeuerwehr zu benachrichtigen. Die wird wahrscheinlich rechtzeitig genügend Geräte hierher bringen wollen."
„Das habe ich schon gemacht. - Vancouver Control hier", sprach der Mann in sein Telefon. Dann: „Moment, bitte." Er deckte die Hand über die Sprechmuschel. „Soll ich auch die Luftwaffe alarmieren?"
„Ja. Man soll die Zone von allen Flugzeugen freihalten." Burdick sprang vom Tisch. „Das ist eine Idee", sagte er.
Unter seinen Achseln hatten sich große Schweißflecken gebildet.
„Habt ihr Piloten auf dem Flugplatz?" fragte ihn der Kontrolleur.
Burdick schüttelte den Kopf. „Keinen einzigen. Wir müssen Hilfe organisieren. "
Der Kontrolleur dachte fieberhaft nach. „Versuchen Sie es bei Cross-Canada. Die haben meistens Leute hier. Erklären Sie die Situation. Wir brauchen einen Mann, der große Erfahrung mit diesem Flugzeugtyp hat und fähig ist, durch Funk genaue Anweisungen zu geben."
„Glauben Sie, daß wir dort eine Chance haben?"
„Keine Ahnung. Aber wir müssen's versuchen. Oder können Sie etwas anderes vorschlagen?"
„Nein", sagte Burdick, „kann ich nicht. Aber beneide ihn nicht um die Arbeit... "
„Die Stadtpolizei ist wieder da", rief der Telefonist, „wollen Sie sprechen? "
„Geben Sie her", sagte der Kontrolleur. „Ich gehe inzwischen zu den Cross-Canada-Leuten", sagte Burdick. „Ich muß auch Montreal anrufen und dem Chef sagen, was los ist."
„Benützen Sie die Hauptleitung", sagte der Kontrolleur „Diese ist blockiert." Er nahm den Hörer ab, während Burdick aus dem Raum eilte. „Hier spricht der Kontrolleur. Ah -Inspektor - ich bin froh, daß Sie's sind. Ja... Ja... Das ist gut. Hören Sie, Inspektor, wir sind in einer verdammten Situation. Viel schlimmer, als wir dachten. Erstens wollen wir bei Ihnen anfragen, ob eines Ihrer Autos einen Piloten aus der Stadt holen und so schnell wie möglich herausbringen kann. Ja - ich lasse es Sie wissen. Zweitens besteht - außer der Notwendigkeit, die Passagiere sofort ins Krankenhaus zu bringen die große Wahrscheinlichkeit, daß das Flugzeug eine Bruchlandung machen wird. Ich kann es jetzt nicht näher erklären - aber wenn die Maschine ankommt, wird sie nicht gerade unter guter Führung stehen..." Er lauschte einen Moment auf die Stimme an der anderen Seite der Leitung. „Ja", fuhr er dann fort, „wir haben eben veranlaßt, daß Generalalarm gegeben wird. Die Feuerwehr wird alle Geräte bereitstellen, um zu helfen. Das Teuflische ist, daß die Häuser in der Nähe des Flugplatzes gefährdet sein können..." Er horchte wieder. „Schön." Ich bin froh, daß Sie es erwähnen. Ich weiß schon, es ist eine verdammt peinliche Sache, die Leute mitten in der Nacht zu wecken. Aber wir riskieren ja auch so schon genug. Ich kann absolut nicht dafür garantieren, daß die Maschine auf dem Flugplatz herunterkommt. Sie kann ebensogut zu kurz kommen oder drüber hinausschießen. Das ist, zusammengefaßt, etwa das, was geschehen kann. Wir haben Glück, daß nur die Häuser nach der Sealsland-Brücke zu gefährdet sind. Man kann die Leute doch auffordern, sich bereit zu halten, nicht wahr?" Wieder lauschte er einen Moment. „Ja. Wir werden die Maschine von der Stadt fernhalten. Wie? Nein, das kann ich jetzt noch nicht sagen. Wir werden wahrscheinlich versuchen, sie vom östlichen Ende der Hauptrollbahn aus hereinzubringen." Nochmals eine Pause, diesmal länger. „Danke, Inspektor. Ich denke natürlich daran, und ich würde es nicht verlangen, wenn ich es nicht für einen wirklichen Notfall hielte. Ich bleibe mit Ihnen in Verbindung." Der Kontrolleur legte den Hörer auf. Sein Gesicht war sorgenvoll. Er wandte sich an den Mann am Funksprechgerät: „Ist 714 noch da?" Der Mann nickte. „Das wird eine saubere Nacht geben...", bemerkte der Kontrolleur über den ganzen Raum hinweg. Er zog ein Taschentuch heraus und wischte sich über das Gesicht. „Der Chef der Feuerwehr ist unterwegs", sagte der Assistent. „Ich habe gerade die Air Force am Apparat. Sie fragen, ob sie helfen können."