„Ist er in der Stadt?"
„Ja, nicht weit vor hier." Sie gab die Telefonnummer. „Danke. Wir werden ihn dort anrufen."
„Was ist denn los?" fragte sie.
„Verzeihung - aber jetzt ist keine Zeit für Erklärungen. Nochmals: danke."
Der Apparat schwieg. Sie legte den Hörer auf und schwang die Beine aus dem Bett. Als Frau des Chefpiloten einer Luftlinie war sie jederzeit auf unerwartete Rufe zur Pflicht gefaßt. Aber obwohl sie daran gewöhnt war, solche Anrufe als einen unabänderlichen Teil ihres Lebens zu betrachten - sie ärgerte sich doch jedesmal darüber. War Paul eigentlich der einzige Pilot, an den sie immer dachten, wenn sie in der Klemme waren? Wenn er eilig irgendein Flugzeug übernehmen mußte, würde er wohl gleich anrufen, damit seine Uniform und alles andere bereit lag.
Sie wußte: jetzt ist es an der Zeit, eine Thermosflasche Kaffee und ein paar Sandwiches vorzubereiten. Sie warf ihren Morgenrock über und schlüpfte, immer noch schläfrig, aus dem Schlafzimmer, die Treppe hinunter in die Küche.
Zwei Meilen davon entfernt lag Paul Treleaven in tiefem Schlaf. Sein langer Körper war auf der Couch im Wohnzimmer seiner Mutter ausgestreckt. Die energische alte Dame hatte darauf bestanden, daß sie nun an der Seite ihres kranken Gatten bleiben wolle, und dem Sohn förmlich befohlen, die restlichen Nachtstunden zu ruhen. Die Äußerungen des Hausarztes hatten am vorangegangenen Abend beruhigend geklungen: Der alte Herr hatte das gefährliche Stadium der Lungenentzündung überwunden. Nun war es nur noch eine Frage der guten Pflege.
Treleaven war sehr dankbar dafür, daß er schlafen konnte. Sechsunddreißig Stunden vorher war er von einem Flug nach Tokio zurückgekehrt. Er hatte von dort eine Parlamentsabordnung zurückgebracht, die nach Ottawa weiterreiste. Und seither hatte er nur wenig geschlafen, da die Krankheit seines Vaters gerade in ihr kritisches Stadium getreten war.
Er erwachte, als er fest am Arm gerüttelt wurde. Treleaven war sofort hellwach und sah seine Mutter über sich gebeugt.
„In Ordnung, Mutter", sagte er schnell, „jetzt übernehme ich wieder die Nachtwache."
„Nein, Junge - darum handelt es sich nicht. Daddy schläft wie ein Kind. Der Flughafen ist am Telefon. Ich sagte ihnen schon, daß du gerade versuchst, ein wenig Ruhe zu finden. Aber sie wollten nichts davon wissen. Ich finde, es ist eine Schande. Als ob sie nicht eine vernünftigere Zeit am Morgen abwarten könnten! "
„Okay", sagte Treleaven nur, „ich komme." Er sprang auf und fragte sich, ob er wohl jemals zu normalen Schlaf kommen würde. Er war bereits halb angekleidet, da er ohnehin nur Jacke und Krawatte abgelegt hatte. In Socken ging er in die Diele. Seine Mutter folgte ihm besorgt. „Treleaven", meldete er sich.
„Gott sei Dank, Paul. Hier ist Jim Bryant", sagte der Anrufende sofort. „Ich war wirklich in Sorge. Wir brauchen dich, Paul, dringend! Kannst du gleich herüberkommen?"
„Warum? Was ist los?"
„Wir stecken in einer wirklich schlimmen Sache. Eine Maple Leaf Charter - es ist eine Empress C6 -, eines dieser ausgebesserten Dinger, ist von Winnipeg her unterwegs. Eine Anzahl Passagiere und beide Piloten liegen wegen ernster Lebensmittelvergiftung flach... "
„Was? - Beide Piloten??"
„Genau. Ganz schwerer Notfall. Irgendeiner ist am Steuer, der seit Jahren nicht geflogen hat. Glücklicherweise ist das Schiff auf Autopilot geschaltet. Maple Leaf hat keinen Mann hier, und wir möchten, daß du kommst und sie heruntersprichst. Glaubst du, du kannst es machen?"
„Großer Gott - ich weiß nicht. Das ist ein verdammt schwerer Auftrag." Treleaven schaute auf seine Armbanduhr. „Wie ist die errechnete Ankunftszeit? "
„Fünf Uhr fünf."
„Aber das sind ja kaum noch zwei Stunden! Wir müssen uns beeilen. Ich bin im Süden der Stadt..."
„Wie ist die Adresse?" Treleaven gab sie durch.
„Wir haben einen Polizeiwagen, der dich in ein paar Minuten holt. Wenn du hier ankommst, geh bitte sofort zum Kontrollraum hinauf. "
„Gut. Bin schon unterwegs."
„Und viel Glück, Paul!"
„Kann ich brauchen! " - Treleaven legte auf und ging ins Wohnzimmer zurück, um sich die Schuhe anzuziehen und die Schuhbänder zu knüpfen. Seine Mutter hielt ihm die Jacke hin.
„Was ist los, Junge?" fragte sie besorgt. „Unannehmlichkeiten auf dem Flughafen, Mutter. Schwere Unannehmlichkeiten, fürchte ich. Gleich kommt ein Polizeiwagen, der mich abholt."
„Polizei..."
„Na, na!" Einen Moment legte er beruhigend den Arm um sie. „Es ist nichts, worüber du dich aufregen müßtest. Aber sie brauchen meine Hilfe. Für den Rest der Nacht muß ich wegbleiben." Er sah sich nach seiner Pfeife und dem Tabak um und steckte beides in die Tasche. „Moment mal...", sagte er plötzlich nachdenklich. „Woher wußten die, daß ich hier bin?"
„Keine Ahnung. Vielleicht haben sie zuerst bei Dulcie angerufen."
„Ach ja, das ist möglich. Würdest du sie bitte anrufen, Mutter, und ihr sagen, daß alles in Ordnung ist?"
„Natürlich mache ich das. Aber was ist eigentlich los, Paul?"
„In einem Flugzeug, das hier bald landen muß, ist ein Pilot krank geworden. Sie wollen, daß ich ihn herunterspreche, wenn ich kann."
Seine Mutter blickte ihn verwirrt an. „Was meinst du mit heruntersprechen?" fragte sie. „Wenn der Pilot krank ist, wer wird dann steuern?"
„Ich, Mutter. Vom Boden aus. Zumindest werde ich es versuchen... "
„Das verstehe ich nicht."
Ich vielleicht auch nicht, dachte Treleaven fünf Minuten später, als er im Rücksitz des Polizeiwagens saß, der aus der Seitenstraße sofort in rasendem Tempo davonschoß. Die Straßenlichter flitzten immer rascher vorüber. Die Tachometernadel stand auf ungefähr 75 Meilen, als die Sirene durch die Nacht heulte.
„Sieht so aus, als gäb's auf dem Flughafen eine heitere Nacht", bemerkte der Polizeisergeant, der neben dem Fahrer saß, über die Schulter hinweg. „Das glaube ich auch", sagte Treleaven. „Können Sie mir eigentlich genau sagen, was passiert ist?"
„Da bin ich überfragt", sagte der Sergeant und spie aus dem Fenster. „Ich weiß nur, daß jeder verfügbare Wagen zum Flughafen gebracht wurde, damit man ihn von dort aus einsetzen kann, falls Bridge Estate geräumt werden muß. Wir waren gerade dorthin unterwegs, als wir gestoppt wurden und zurück mußten, um Sie zu holen. Ich glaube, sie rechnen mit einer scheußlichen Bruchlandung."
„Wissen Sie was?" warf der junge Fahrer ein. „Ich glaube, es ist ein Düsenbomber, der mit einer Nuklear-Ladung hereinkommt... "
„Nun tu mir bloß den Gefallen...", sagte der Sergeant mit gequälter Stimme. „Dein Verstand hat wohl unter dem Lesen von zu vielen Comics gelitten, was?" Nie, dachte Treleaven grimmig, bin ich so schnell zum Flughafen gekommen. Nach wenigen Augenblicken, schien es, hatten sie Marpole erreicht und fuhren über Oak Bridge nach Lulu Island. Dann bogen sie rechts ab, kreuzten die Flußmündung nach Sea-Island und fuhren gelegentlich an Polizeiwagen vorüber, deren Besatzungen mit bestürzten Hausbewohnern sprachen. Dann rasten sie das letzte Stück der Flughafenstraße entlang, während ihnen die Lichter der langen, niedrigen Flughafengebäude schon zuwinkten. Plötzlich bremste der Fahrer. Die Reifen kreischten protestierend. Vor ihnen drehte gemächlich eine Feuerspritze um, der sie ausweichen mußten. Der Sergeant fluchte kurz, aber gefühlvoll vor sich hin. Vor dem Hauptempfangsgebäude sprang Treleaven aus dem Wagen und war schon durch die Türen und die Schalterhalle, bevor die Sirene des Wagens schwieg. Er winkte dem Bevollmächtigten ab, der auf ihn zueilte, und ging direkt zum Kontrollraum im Verwaltungsgebäude. Trotz seiner massigen Statur konnte er sich bemerkenswert schnell fortbewegen. Vielleicht war es gerade diese leichtfüßige Behendigkeit, die ihn - verbunden mit seinem kräftigen Körperbau, den hellen Haaren und harten, hageren Gesichtszügen - für manche Frau interessant machte. Sein Gesicht wirkte fast eckig und war durchfurcht, als sei es aus Holz gemeißelt. Treleaven war als Pedant bekannt, und manches Besatzungsmitglied, das einmal einen Fehler gemacht hatte, fürchtete den kalten Blick seiner hellen, beinahe wasserblauen, klaren Augen.