DAS ERSTE BUCH
Verehrter Yoshito Sugitani san!
Fast einen Monat ist es her, dass wir auseinandergingen, doch steht mir alles, was wir in meinem Heimatort zusammen erlebten, so deutlich vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Es hat uns zutiefst beeindruckt, dass Sie ohne Rücksicht auf Ihr fortgeschrittenes Alter die weite Reise übers Meer zu uns Hinterwäldlern unternommen haben, um sich hier bei uns auf dem Land mit unseren Literaturliebhabern einmal nach Herzenslust auszutauschen. Den einstündigen Vortrag, den Sie am Vormittag des zweiten Feiertags des Frühlingsfestes zum Thema Die Literatur und das Leben im Festsaal unseres Kreishotels hielten, haben wir bereits abtippen lassen, denn wir möchten, wenn Sie es uns Unwissenden erlauben wollen, Ihren Aufsatz in unserem kreisinternen Journal Froschgesang der China Federation of Literary and Art Circles veröffentlichen, damit alle, die an jenem Tag verhindert waren, Ihren hervorragend formulierten und lehrreichen Vortrag zumindest nachlesen können.
Am Vormittag des Neujahrstages statteten wir meiner Tante, die über fünfzig Jahre lang als Frauenärztin gearbeitet hat, gemeinsam einen Besuch ab. Obwohl sie nur Dialekt spricht, dazu auch noch viel zu schnell, so dass Sie nicht alles verstanden, hat sie – da bin ich mir sicher – bei Ihnen einen tiefen Eindruck hinterlassen. Während Ihres Vortrags am darauffolgenden Tag nannten Sie sie viele Male, um Ihre Ansichten zur Literatur zu erläutern. Sie berichteten mir, Sie sähen inzwischen vor ihrem inneren Auge Bilder einer Ärztin, die in höchster Eile unter Aufbietung ihrer gesamten Kräfte auf dem Fahrrad über den gefrorenen Fluss radelt. Einmal ist die Gestalt mit dem Arzttornister auf dem Rücken unterwegs, den schweren Regenschirm aufgespannt, die Hosenbeine hochgerollt, und kämpft sich durch ganze Heerscharen von anrückenden Fröschen. Dann wieder hält sie in einer Hand einen Säugling, die Ärmel blutverschmiert. Einmal lacht sie schallend, während sie dann wieder, die Zigarette im Mundwinkel, voller Trauer in Schwermut versinkt. Nachlässig gekleidet ist sie, diese Arztperson ... Und Sie berichteten mir, diese Gestalten würden zuweilen zu einer einzigen verschmelzen, ein anderes Mal wieder auseinanderdriften; eine Skulpturengruppe ein und derselben Person. Und Sie ermunterten die Literaturliebhaber bei uns im Kreis, sich doch meine Tante Gugu als Protagonistin vorzunehmen, um anrührende Werke zu schreiben, Romane, Gedichte, Theaterstücke.
Verehrter Freund, damit haben Sie unsere schöpferische Leidenschaft entfacht! Viele hier sind begierig, sich an dieser Aufgabe zu versuchen. Ein Bücherfreund des Kreiskulturhauses hat sich bereits an die Arbeit gemacht und einen Roman über eine Landfrauenärztin zu schreiben begonnen. Ich will ihm nicht in die Quere kommen, obwohl ich um ein Vielfaches genauer über meine Tante Bescheid weiß. Also lasse ich ihn den Roman schreiben und werde selbst ein Theaterstück über meine Tante verfassen. Lieber Freund, für mich waren unsere Gespräche am Abend nach dem Vortrag wie eine Eingebung. Mit welch einzigartigem Gespür Sie Sartre analysierten, wie detailliert Sie über sein Theater sprachen und wie hoch Sie ihn bewerteten! Ich werde ein so herausragendes Stück wieDie schmutzigen Hände oder Die Fliegen schreiben und für die gleichen erhabenen Ziele kämpfen wie Sartre. Ich werde mir Ihren Rat zu Herzen nehmen: mich nicht unter Zeitdruck setzen, ruhig und geduldig, wie ein Frosch auf einem Seerosenblatt, der auf die vorbeischwirrenden Mücken wartet. Wenn ich bereit bin, werde ich wie der Frosch, der nach der Mücke schnappt, blitzschnell aufspringen und die Schreibarbeit vollenden.
Als ich Sie zum Flughafen von Tsingtao brachte, baten Sie mich beim Abschied um regelmäßige handgeschriebene Briefe, in denen ich Ihnen vom Leben meiner Tante berichten solle. Obwohl Gugu bisher bei guter Gesundheit ist, kann man ihr Leben schon jetzt ein Drama nennen und ihm den Titel Brausende Wogen eines stürmischen Lebens geben. Es gibt so viel zu berichten, dass ich mir nicht vorzustellen wage, wie lang meine Briefe jeweils werden. Nehmen Sie mir das bitte nicht übel! Bitte gestatten Sie mir auch, mit meiner schlechten Handschrift einfach draufloszuschreiben, ohne Plan, immer so weit, wie ich es gerade schaffe. In unserem Computerzeitalter ist das Briefeschreiben Luxus. Und natürlich macht es Spaß. Ich wünsche mir, dass Sie eine altertümliche Freude empfinden, wenn meine Briefe Sie erreichen.
Ich möchte Ihnen bei dieser Gelegenheit noch berichten, dass mein Vater mich heute anrief und mich wissen ließ, dass die alte krumme Ume auf unserem Hof, die Sie ein eigenwilliges Talent nannten, seit dem 25. des ersten Mondmonats tiefrot in voller Blüte steht. Unser Hof war an jenem Tag voller Leute, die gekommen waren, um sich an den Blüten zu erfreuen. Auch meine Tante war da. Mein Vater sagte, dass es an diesem Tag zu Neujahr dicke Flocken vom Himmel geschneit habe. Der rieselnde Schnee habe betörend nach den Umeblüten geduftet, von dem kalten Duft hätte man einen freien Kopf bekommen.
Ihr Schüler Kaulquappe
Peking, 21. März 2002
Verehrter Yoshito Sugitani san!
Fast einen Monat ist es her, dass wir auseinandergingen, doch steht mir alles, was wir in meinem Heimatort zusammen erlebten, so deutlich vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Es hat uns zutiefst beeindruckt, dass Sie ohne Rücksicht auf Ihr fortgeschrittenes Alter die weite Reise übers Meer zu uns Hinterwäldlern unternommen haben, um sich hier bei uns auf dem Land mit unseren Literaturliebhabern einmal nach Herzenslust auszutauschen. Den einstündigen Vortrag, den Sie am Vormittag des zweiten Feiertags des Frühlingsfestes zum Thema Die Literatur und das Leben im Festsaal unseres Kreishotels hielten, haben wir bereits abtippen lassen, denn wir möchten, wenn Sie es uns Unwissenden erlauben wollen, Ihren Aufsatz in unserem kreisinternen Journal Froschgesang der China Federation of Literary and Art Circles veröffentlichen, damit alle, die an jenem Tag verhindert waren, Ihren hervorragend formulierten und lehrreichen Vortrag zumindest nachlesen können.
Am Vormittag des Neujahrstages statteten wir meiner Tante, die über fünfzig Jahre lang als Frauenärztin gearbeitet hat, gemeinsam einen Besuch ab. Obwohl sie nur Dialekt spricht, dazu auch noch viel zu schnell, so dass Sie nicht alles verstanden, hat sie – da bin ich mir sicher – bei Ihnen einen tiefen Eindruck hinterlassen. Während Ihres Vortrags am darauffolgenden Tag nannten Sie sie viele Male, um Ihre Ansichten zur Literatur zu erläutern. Sie berichteten mir, Sie sähen inzwischen vor ihrem inneren Auge Bilder einer Ärztin, die in höchster Eile unter Aufbietung ihrer gesamten Kräfte auf dem Fahrrad über den gefrorenen Fluss radelt. Einmal ist die Gestalt mit dem Arzttornister auf dem Rücken unterwegs, den schweren Regenschirm aufgespannt, die Hosenbeine hochgerollt, und kämpft sich durch ganze Heerscharen von anrückenden Fröschen. Dann wieder hält sie in einer Hand einen Säugling, die Ärmel blutverschmiert. Einmal lacht sie schallend, während sie dann wieder, die Zigarette im Mundwinkel, voller Trauer in Schwermut versinkt. Nachlässig gekleidet ist sie, diese Arztperson ... Und Sie berichteten mir, diese Gestalten würden zuweilen zu einer einzigen verschmelzen, ein anderes Mal wieder auseinanderdriften; eine Skulpturengruppe ein und derselben Person. Und Sie ermunterten die Literaturliebhaber bei uns im Kreis, sich doch meine Tante Gugu als Protagonistin vorzunehmen, um anrührende Werke zu schreiben, Romane, Gedichte, Theaterstücke.