»Du wirst schon sehen, dass dir das schlecht bekommen wird! Isst du bei deiner Tante eine Schale Nudeln, wird sie es dir ein Leben lang ankreiden«, rief meine Großtante zurück.
Das ließ meine Oma nicht unbeantwortet: »Sag, wenn du Appetit hast, und komm rein! Wenn nicht, geh besser nach Haus.«
»Von euch werde ich bestimmt kein Essen annehmen!«, krakeelte meine Großtante.
Als die Nudeln fertig waren, füllte Mutter für die Großtante eine große Schüssel voll ab und trug meiner Schwester auf, sie hinüberzubringen. Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass meine Schwester beim Rennen auf die Nase fiel, die Schale zerbrach und die Nudeln im Dreck landeten. Die Großtante nahm eine Schale aus ihrem Geschirrschrank und gab sie meiner Schwester mit zurück, weil sie nicht wollte, dass meine Schwester ausgescholten wurde.
Meine Tante war überaus gesprächig, sie konnte unglaublich gut erzählen, und wir liebten es, ihr zuzuhören. Nachdem sie also ihre Nudeln aufgegessen hatte, sie saß auf dem Herdrand, mit der Schulter an die Wand gelehnt, begann sie zu plaudern. Und es gab viel zu plaudern, hatte sie doch Zugang zu zahllosen Familien gehabt, hatte die unterschiedlichsten Menschen gesehen. Was hatte man ihr nicht alles anvertraut! Sie schmückte ihre Erzählungen reichlich aus, fesselnde Geschichten wie Kapitelromane, die von Berufserzählern zum Besten gegeben werden, bekamen wir zu hören. Als wir Anfang der achtziger Jahre im Fernsehen die berühmte Sprecherin Liu Lanfang Kapitelromane vortragen sahen, sagte meine Mutter: »Haargenau wie deine Tante! Wäre sie keine Ärztin geworden, hätte sie eine berühmte Fernsehsprecherin werden können.«
An jenem Abend begann sie ihre Schilderungen mit ihrem mutigen Kampf gegen den japanischen Armeekommandanten Sugitani in Pingdu. »Als ich damals mit eurer Großtante und eurer Uroma nach Pingdu kam, war ich erst sieben«, sie warf mir einen Blick zu, »ungefähr so groß wie der kleine Renner. Ich wurde in ein dunkles Zimmer eingeschlossen, vor der Tür saßen zwei große deutsche Schäferhunde, die mich bewachten. Die Japaner fütterten ihre Hunde mit Menschenfleisch, und die schleckten sich schon das Maul, wenn sie kleine Kinder witterten. Meine Oma und meine Mutter weinten die ganze Nacht, nur ich schlief, kaum lag ich, wie ein Stein bis zum helllichten Tag. Nachdem wir, ich weiß nicht wie viele Tage, in dem dunklen Zimmer eingesperrt gewesen waren, brachten sie uns in den Hof eines separaten Gebäudes. Dort blühte ein blauer Fliederbaum, dem ein so intensiver Duft entströmte, dass ich davon ganz benommen war. Ein Landedelmann in einem langen Gewand mit einem Fedora auf dem Kopf teilte uns mit, dass der Kommandant Sugitani uns zu einem Bankett bitte. Großtante und die Urgroßmutter weinten nur, denn sie trauten sich nicht. Der Edelmann sprach mir gut zu: ›Kleines Fräulein, sag deiner Mutter und Oma, dass sie keine Angst haben sollen. Der Kommandant Sugitani möchte euch nichts zuleide tun. Er möchte nichts weiter, als mit deinem Herrn Vater Wan Liufu Freundschaft knüpfen.‹
Ich erwiderte: ›Mama, Oma, ihr sollt nicht mehr weinen! Wozu soll das Weinen gut sein? Davon wachsen uns keine Flügel. Auch die Tränenfrau Mengjiangnü konnte die Chinesische Mauer nicht niederweinen.‹
Der Mann klatschte in die Hände: ›Bravo! Gut gesprochen, kleines Fräulein! Du kennst dich aus! Wenn du einmal erwachsen bist, wird aus dir sicher eine große Persönlichkeit.‹
Unter meinem Zureden hörten Großtante und Uroma mit dem Weinen auf. Sodann bestiegen wir mit dem Mann einen von einem schwarzen Muli gezogenen Wagen und erreichten nach einer kurvenreichen Fahrt ein Anwesen mit einer mächtigen Toreinfahrt, an der links vom Haupttor ein Inder und rechts davon ein Japaner Wache standen. Wir durchfuhren unzählige Innenhöfe. Vom Haupttor kam man in den ersten Hof, der wieder einen zweiten Hof umgab, der sich wieder auf einen weiteren öffnete und so fort, als würde man niemals alle Höfe bis zum Ende durchmessen können. Zuletzt gelangten wir in einen blumengeschmückten Empfangssalon, Türen und Fenster waren mit floralen Schnitzereien verziert, die geschnitzten Lehnstühle waren aus Sandelholz. Der Kommandant Sugitani trug einen Kimono. In der Hand hielt er einen Ogi, den japanischen Faltfächer. Wie gelassen er seinen Fächer bewegte! Ein Blick genügte, um zu wissen, dass er ein Mann von Bildung war. Er sprach höfliche Worte, nur Floskeln, mit denen er uns zu Tisch, einem großen runden Esstisch, beladen mit Platten von gebratenem Wild und Meeresfrüchten, führte. Uroma und Großtante getrauten sich nicht davon zu essen, mir jedoch war der Japse egal, ich schlug mir den Bauch voll. Als ich mit den Essstäbchen nicht weiterkam, nahm ich für die Suppe den Schaumlöffel und fischte damit die großen Happen aus der Brühe, die ich mir in den Mund stopfte, bis ich zum Platzen satt war. Sugitani, der ein Schnapsglas in der Hand hielt, schaute mir freundlich lächelnd zu. Als ich satt war, packte ich mit beiden Händen das Tischtuch und wischte mir daran die Hände sauber. Da fragte mich Sugitani auch schon: ›Kleines Fräulein, lass deinen Vater hierherkommen, ja?‹
Au wei, was hatte ich mir da eingebrockt! Ich riss die Augen auf und antwortete: ›Das ist keine gute Idee.‹
›Was sollte daran schlecht sein?‹, fragte er.
›Mein Vater ist Soldat der Achten Route-Armee und du bist Japaner. Die Armee führt mit Japan Krieg. Hast du da keine Bedenken, dass mein Vater dich töten wird?‹«
Da angelangt, streifte meine Tante den Ärmel hoch und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Damals gab es in ganz Gaomi gerade mal zehn Armbanduhren und meine Tante trug eine davon.
»Wahnsinn!«, stieß mein großer Bruder vor Überraschung hervor. – Von uns hatte bisher nur er eine Armbanduhr zu Gesicht bekommen. Als er die erste Kreismittelschule besuchte, hatte er nämlich einen Russischlehrer, der in Russland studiert und sich von dort eine solche Uhr mitgebracht hatte. – Gleich darauf schrie mein Bruder: »Eine Armbanduhr!« Meine Schwester und ich taten es ihm nach und schrien auch: »Eine Armbanduhr!«
Meine Tante schob, als sei es nicht der Rede wert, den Ärmel wieder hinunter: »Was soll die Aufregung? Ist doch nur eine Armbanduhr!«
Aber wir wurden nur umso neugieriger. Mein Bruder traute sich als erster zu fragen: »Tante, ich habe die Uhr von Lehrer Ji nur aus der Entfernung gesehen ... kannst du mir deine mal zum Anschauen geben?«
Wir riefen mit ihm im Chor: »Tante, wir wollen sie auch anschauen!«
»Ach, ihr lästigen Blagen«, lachte meine Tante, »was gibt’s an einer kaputten Armbanduhr schon zu gucken?« Aber sie nahm sie trotzdem vom Arm und reichte sie meinem Bruder. Mutter neben ihm stieß gleichzeitig aus: »Vorsichtig, Junge!«
Mein Bruder nahm die Uhr behutsam in die Hand und betrachtete sie eine Weile, um sie sich dann zum Horchen ans Ohr zu halten. Nach ihm war meine Schwester an der Reihe, nach ihr mein zweiter Bruder, doch kaum hatte der sie angeschaut, nahm sie ihm mein großer Bruder, noch bevor er sie ans Ohr halten konnte, wieder weg und gab sie der Tante zurück. Ich hatte sie gar nicht anschauen dürfen und bekam laut weinend einen Wutanfall.
Mutter schimpfte und Tante meinte: »Kleiner Renner, wenn du groß bist, ziehst du in die weite Ferne. Da kann es dir doch egal sein, wenn du keine Uhr am Arm trägst.«
»Willst du trotzdem eine Uhr tragen? Dann male ich dir morgen eine mit schwarzer Tusche auf deinen Arm«, sagte mein großer Bruder.
»Jeder weiß, dass man über einen Menschen nie nach seinem Äußeren urteilen soll. Stille Wasser sind tief! Denkt nicht, aus dem Kleinen Renner wird nichts, nur weil er hässlich ist. Vielleicht steht ihm eine große Zukunft bevor«, sagte meine Tante.
Meine Schwester meinte: »Bevor aus dem mal was wird, wird aus unserem Schwein ein Tiger.«
Mein Bruder fragte: »Gugu, woher kommt denn die Uhr? Welche Marke ist das?«