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Wir Schüler in der Schule waren vor Schreck wie versteinert. Als wir uns gefasst hatten, liefen wir zusammen mit unserer Lehrerin hinaus und blickten mit gestreckten Hälsen in den strahlend blauen Himmel. Wir sahen einen Flieger, der am Heck ein zylinderförmiges Etwas hinter sich herzog. Hinter ihm her jagte die Fliegerstaffel. Die Staffelflieger pendelten an seinem Heck von links nach rechts und kamen dabei dem Etwas gefährlich nah. Zuerst stießen sie nur vereinzelte Rauchwolken aus. Dann hörten wir lautes Donnern wie Geschützfeuer. Es klang weiter entfernt, nicht wie der erste Knall. Auch besaß es nicht die unmittelbare Gewalt des ersten. Es war das zweitlauteste Geräusch, das ich jemals gehört habe. Dagegen ist das Einschlagen eines Blitzes in eine mächtige Weide und das Auseinanderbersten ihres Stammes nicht der Rede wert. Als hätten die Piloten das Schleppziel, das der Flieger hinter sich herzog, mit voller Absicht nicht abgeschossen, umrundete der weiße Qualm der explodierenden Geschosse es immer nur, bis der Flieger aus unserem Gesichtsfeld verschwunden war. Es gab keinen Treffer. Chen Nase, den wir alle wegen seiner großen Nase Ausländernase nannten, rieb sich seinen Riechkolben und sagte verächtlich: »Chinesische Piloten haben ja überhaupt nichts drauf! Wären das Sowjets gewesen, hätten die ihr Ziel gleich mit der ersten Granate abgeschossen.«

Ich weiß, dass Chen Nase das nur sagte, weil er mich um den Onkel in spe beneidete. Er war in unserem Dorf geboren, aufgewachsen, nicht mal einen sowjetischen Hund hatte er je zu Gesicht bekommen. Woher wollte ausgerechnet er wissen, dass die Flugtechnik der Sowjets besser war als die der Chinesen?

Wir Landeier hatten natürlich keine Ahnung, dass sich die Beziehungen zwischen China und der UdSSR gerade massiv verschlechterten. Keiner dachte an Politik, niemand vermutete einen Hintersinn, als Chen Nase die chinesischen Piloten durch den Vergleich mit den sowjetischen Flugkünsten schlecht machte, aber wir ärgerten uns sehr darüber. Jahre später, es war der Beginn der Kulturrevolution, wir gingen in die fünfte Klasse, ließ ihn einer unserer Klassenkameraden mit dieser alten Geschichte auffliegen. Nicht nur Chen Nase selbst hatte bitter darunter zu leiden, sondern mehr noch seine Eltern. Sie starben nach schwerer Folter an ihren Verletzungen und bezahlten seine kleine Gedankenlosigkeit mit dem Leben. Man fand bei ihnen zu Hause Boris Polewois Roman Der wahre Mensch, der von einem russischen Luftkampfhelden erzählt, der, obwohl ihm beide Beine amputiert worden waren, als Jagdflieger für die Luftwaffe weiterflog. Eigentlich ein wertvoller, auf Tatsachen beruhender Revolutionsansporn! Er wurde Chen Nases Mutter jedoch zum Verhängnis und brandmarkte sie als Fliegergeliebte der Sowjetimperialisten. Der Bastard Nase musste als Beweis für die Straftat seiner Mutter herhalten, man sagte, er sei mit einem sowjetimperialistischen Kampffliegerpiloten gezeugt worden.

Die Jetpiloten der Shenyang J-5 auf dem Gaomi-Flugplatz flogen tagsüber Flugübungen, die der Bomber auf dem Kiaoutschou-Flugplatz wollten nicht im Abseits stehen – sie flogen ihre Übungen nachts. Immer ungefähr um neun Uhr abends – wenn bei uns im Kreis das Kabelrundfunkprogramm zu Ende war – leuchteten auf dem Flugplatz plötzlich die Suchscheinwerfer auf. Der breite Lichtstrahl über dem Luftraum unseres Dorfes schockte uns. Auch wenn er keine scharfen Konturen entstehen ließ und nur alles erhellte, war er unglaublich beängstigend. Wie immer konnte ich meinen Mund nicht halten und tönte: »Wäre spitze, so eine Taschenlampe zu besitzen!«

»Idiot!«, rügte mich mein Bruder, während er mir mit dem Zeigefingerknöchel brutal auf den Kopf hämmerte, als wollte er mir Gehorsam einmeißeln. Es lag natürlich an unserem Onkel in spe, dass mein Bruder sich für eine Art Luftfahrtspezialisten hielt. Ohne Stocken zählte er auswendig alle Helden des Freikorps der Luftwaffe mitsamt ihren heldenhaften Taten auf. Er war es auch, der mir, als ich ihm mal wieder Kopfläuse absuchen musste, erklärte, der Knall, durch den unser Fensterscheibenpapier zerrissen worden war, heiße Überschallknall. Man höre ihn, wenn Überschallflugzeuge die Schallmauer durchbrächen.

»Was ist Überschall?«

»Überschallgeschwindigkeit, du Doofkopf. Das ist, wenn etwas schneller als mit Schallgeschwindigkeit fliegt!«

Von den Flugübungen auf dem Kiaoutschou-Flugplatz war nichts als dieses rätselhafte Suchscheinwerferlicht zu bemerken. Es gab Leute, die sagten, es hätte gar keine Luftmanöver gegeben. Die Towerbesatzung hätte mit dem Scheinwerferlicht lediglich von der Flugroute abgekommenen Flugzeugen den Weg gezeigt. Sie suchten damit kreuz und quer das Terrain ab. Mal kreuzten sich die Lichtstrahlen, mal verliefen sie parallel. Mal erschien mitten in einem Lichtstrahl ein Vogel, flatterte verstört im grellen Licht wie eine Fliege, die sich in eine leere Flasche verirrt hat. Wenn die Scheinwerfer aufleuchteten, ertönte vom Himmel jedes Mal das Brummen von Flugzeugmotoren. Dann konnten wir die Umrisse so eines schwarzen Riesenviehs mit Nase, Heck und Tragflächen im Lichtstrom auftauchen sehen. Als rutschte es den Strahl hinab zurück in sein Nest. Flugzeuge mussten doch auch Nester haben. Wie die Hühner!

7

In der zweiten Jahreshälfte 1960, kurze Zeit nach dem Kohlenessen, hörten wir, dass meine Tante den Jetpiloten nun heiraten werde. Die Großtante kam zu uns, weil sie mit meiner Mutter über die Mitgift sprechen wollte. Schließlich beschlossen sie, den großen alten Trompetenbaum vor unserem Haus zu fällen. Unseren Baumgeist! Um aus seinem Holz von unserem allerbesten Tischlermeister Fan ein handgearbeitetes Möbelstück für unsere Tante tischlern zu lassen. Ich sah meinen Vater tatsächlich den Tischlermeister Fan zum Baum begleiten, um dort Maß zu nehmen. Der Baum sah seinem Tod entgegen. Die Zweige zitterten, die Blätter rauschten, als weinte er.

Dann hörten wir nichts mehr davon, und meine Tante kam auch nicht mehr zu Besuch. Ich rannte zu meiner Großtante, weil ich von ihr wissen wollte, was los war, wurde aber mit dem Gehstock unwirsch aus dem Haus gejagt. Da merkte ich erst einmal, dass sie den bösen Wehmüttern ähnelte, von denen meine Tante immer erzählt hatte.

Als ich in jenem Jahr frühmorgens nach dem ersten Schneefall, die aufgehende Sonne stand tiefrot am Horizont, barfuß in Strohschuhen auf dem Weg zur Schule war, fror ich erbärmlich an Händen und Füßen. Auf dem Schulhof rannten wir wild umher und kreischten, damit uns warm wurde. Plötzlich war da ein Donnern, was uns panische Angst einjagte. Mit offenen Mündern starrten wir auf ein dunkelrotes riesiges Ungetüm, das eine dreckige Rauchwolke hinter sich herzog und sich mit roten Riesenaugen, gebleckten weißen Raubtierzähnen, am ganzen Leib zitternd auf uns stürzte. »O Schreck! Ein Flugzeug! Es will doch nicht auf unserem Schulhof landen?«

Wir hatten nie zuvor aus dieser Nähe ein Flugzeug gesehen. Der Wind, den die Tragflächen aufrührten, wirbelte auf dem Hof Hühnerfedern und Laub auf. »O, bitte, bitte, lande auf unserem Schulhof!« Dann könnten wir uns das Flugzeug genau anschauen und es mal befühlen. Mit etwas Glück dürften wir sogar hineinkriechen und drinnen ein bisschen Spaß haben. Vielleicht könnten wir den Piloten bitten, ein paar Geschichten vom Luftkampf zu erzählen. Der ist bestimmt mit meinem Onkel in spe befreundet. Oder auch nicht, denn die Tiger-5, die mein Onkel in spe fliegt, ist um ein Vielfaches hübscher als dieses Ungetüm. Mit einem, der so eine schwerfällige Maschine fliegt, fängt er bestimmt keine Freundschaft an. Aber man muss schon sagen, mit so einem Flieger abzuheben, muss affenscharf sein! Wer mit so einem Panzerblechklotz sicher in den Luftraum abhebt, ist ja wohl ein Held.

Ich hatte das Gesicht des Piloten nicht gesehen. Aber nach dem Unglück sagten mir eine ganze Reihe meiner Mitschüler – sie schworen bei ihrer Ehre – dass sie durch die Glasscheibe des Cockpits das Gesicht des Piloten gesehen hätten. Also, dieses Flugzeug, von dem ich angenommen hatte, dass es hundertprozentig auf unserem Schulhof landen würde, zog noch einmal, wie unfreiwillig, die Nase hoch und schwenkte ruckartig nach rechts. Mit dem Rumpf streifte es die Krone der großen Pappel am Ostrand unseres Dorfes und bohrte dann den Bug in eines der Weizenfelder. Wir hörten einen Riesenknall. Der war noch weitaus lauter als der Überschallknall beim letzten Mal. Wir spürten den Erdboden unter uns erzittern. Die Ohren summten uns. Es tanzten Sternchen vor unseren Augen. Kurz darauf schlug inmitten von dichtem Qualm eine dunkelrote Flammensäule zum Himmel empor. Die Sonne wurde für einen Augenblick purpurfarben. Ein unangenehmer Geruch, der jedem den Atem nahm, stach uns in die Nase.