Meine Tante gab zurück: »Wie gesagt, wenn ich dir Schnaps schenke, dann trink ihn auch. Außerdem weißt du, dass ich selber dafür kein Geld ausgegeben habe. Wenn wir ihn nicht trinken, wer denn dann? Wir sollten ihn, wo er doch umsonst ist, nicht verkommen lassen. Wie damals bei den Japsen zum Festessen in Pingdu. Hätten wir es nicht gegessen, wer hätte es sonst gegessen? Wäre doch schade drum gewesen, wo es umsonst war!«
Mein Vater sagte: »So weit, so gut, es mag vernünftig sein, ihn auszutrinken, wo er nun mal hier ist. Aber wenn man mal drüber nachdenkt. Wo ist die Berechtigung, für so ein bisschen Feuerwasser so viel Geld zu verlangen?«
»Schwagerherz«, erklärte meine Tante, »da hast du etwas Wesentliches nicht verstanden. Ich kann dir versichern, dass keiner, der diesen Schnaps trinkt, ihn mit seinem eigenen Geld bezahlt. Bezahlt man aus eigener Tasche, kann man sich nur billigen Fusel leisten.« Sie hob ihr Schnapsglas und leerte es wieder in einem Zug.
»Wie lange kannst du mit deinen über achtzig Jahren noch nach Herzenslust trinken?« Sie schlug sich wie ein Recke auf den Brustkorb, um heldenmütig zu verkünden: »Jetzt wird eure große Schwester euch Frischgemüse mal was verraten: Von heute an versorge ich euren Vater mit Maotai-Schnaps! Angst kennen wir doch nicht! Früher fürchteten wir zuerst die Wölfe, danach die Tiger, je größer die Furcht, umso früher sahen wir überall Gespenster. Gießt mir Schnaps nach! Kapiert ihr das nicht? Schnaps ist niemals zu schade zum Trinken!«
»Du hast ja recht, Gugu! Lass uns einen heben!«
»Wenn wir jetzt um die Wette trinken, Kinder, werdet ihr merken, dass ich nichts mehr vertrage«, meinte sie traurig. »Wenn ich daran zurückdenke, wie ich damals diese Bastarde aus der Volkskommune unter den Tisch gesoffen habe. Die ganze Bande dieser alten Teufel, die mich lächerlich machen wollten. Und? Ich habe sie alle abgefüllt, bis ihnen die Finger steif wurden und sie unter den Tisch krochen und bellten wie die Hunde. Los, ihr Grünschnäbel! Ex und hopp!«
»Tante, iss doch was dazu!«
»Wozu! Ein richtig trinkfester Bursche braucht kein Essen zum Schnaps! Ihr hättet damals euren Großonkel sehen sollen! Der konnte wirklich trinken! Der trank einen halben Krug Gaoliang-Schnaps zu einer Stange frischer Frühlingszwiebeln. Der hätte doch nicht erst gegessen! Ihr seid wohl nur zum Essen hier? Könnt ihr überhaupt trinken? Schwagerherz!«
Gugu war in Fahrt gekommen. Sie klopfte Vater auf die Schulter und öffnete ihren obersten Blusenknopf: »Wenn ich sage, dass du trinken sollst, dann trink auch mit mir. Nur wir beide sind aus unserer Generation noch am Leben. Lass uns essen und trinken! Wozu noch was aufheben? Nicht ausgegebenes Geld ist wertlos wie Papier. Man merkt erst, dass man Geld hat, wenn man es ausgibt. Geldsorgen haben wir keine, denn wir haben ein Handwerk gelernt! Die hohen Tiere werden genauso krank wie wir. Es spielt keine Rolle, wer du bist und wie hoch dein Rang ist. Wenn die da oben krank werden, brauchen sie unsere Dienste wie jeder andere Kranke auch. Und wenn’s gewünscht wird«, die Tante lachte schallend, »tauschen wir auch mal das Geschlecht eines Fötus aus.«
»Was, wenn jemand deine Wunderkräuter einnimmt und trotzdem ein Mädchen zur Welt bringt?« Mein Vater war äußerst besorgt.
»Da hast du nicht verstanden, was ein Arzt der chinesischen Medizin macht. So ein TCM-Arzt ist immer ein halber Astrologe. Ein Astrologe dreht es immer so, dass der Beratene, Behandelte selbst am Zuge ist, er würde sich niemals die Schlinge um den eigenen Hals legen.«
Mein Neffe Xiangqun ergriff schnell die Gelegenheit, als Gugu sich eine Zigarette anzündete: »Großtante, erzähl doch bitte die Geschichte von deinem Jetpiloten! Vielleicht krieg ich ja eines Tages Lust und fliege mal nach Taiwan rüber, um ihn zu besuchen!«
»Gleich setzt’s was!«, rief mein großer Bruder und »Dreist ohne Ende!«, fiel meine Schwägerin ein.
Gugu war geübt im Rauchen, weißer Zigarettenqualm umwölkte ihr locker aufgestecktes Haar. Sie leerte ihr Glas bis auf den Grund.
»Denke ich heute daran zurück, hat er mich zwar ins Verderben gestürzt, andererseits wieder hat er mich gerettet!«
Sie zog ein paar Mal kräftig an ihrer Zigarette und schnippte die Kippe mit dem Mittelfinger in hohem Bogen davon. Die flog glühend in einer dunkelroten Kurve weit hinauf bis ins Weintraubenspalier. Gugu stand auf: »Ich bin dicht. Für mich ist die Feier zu Ende. Ich geh nach Haus.«
Sie schob ihren massigen, großen Körper torkelnd zum Hoftor hinaus. Wir beeilten uns, hinterherzurennen, um ihr zu Hilfe zu kommen.
»Ihr glaubt doch nicht etwa, dass ich wirklich betrunken bin? Nee, so weit ist es noch nicht mit mir. Ich bin trinkfest bis zum tausendsten Glas.«
Vor dem Tor sahen wir ihren Mann Hao Dashou, Große Hand, der vor einigen Tagen eine Ehrung als »Chinesischer Großmeister der kunstgewerblichen Volkskunst« bekommen hatte. Still hatte er dort gestanden und auf seine Frau gewartet.
9
Im Übrigen, verehrter Freund Sugitani-san, kam mein Neffe anderntags mit dem Moped aus der Kreisstadt angefahren, nur um in Begleitung seines Vaters seine Großtante zu besuchen, damit sie ihm diese Geschichte über Wang Xiaoti erzählte. Mein Bruder lächelte gezwungen.
»Besser, wir lassen das. Deine bald achtzigjährige Großtante quält sich schon ihr ganzes Leben damit herum. Immer hatte sie es schwer. Wir rühren deswegen besser nicht an solch alte Kamellen, denn es brechen nur alte Wunden wieder auf. Dazu kommt, dass sie darüber vor deinem Großonkel nicht gut reden kann.«
»Xiangqun«, sagte ich, »dein Papa hat recht. Aber ich kann dir, wenn dich diese Geschichte interessiert, alles erzählen, was ich darüber weiß. Eigentlich brauchst du nur im Internet nachzuschauen, um nachvollziehen zu können, was damals passierte.«
Weil ich schon immer vorgehabt habe, über meine Tante einen Roman zu schreiben – obschon ich diesen Plan inzwischen verworfen habe und nur ein Theaterstück über sie schreiben werde –, habe ich Wang Xiaoti von Beginn an als einen wichtigen Protagonisten eingeplant. Zwanzig Jahre vorbereitende Recherche habe ich bislang investiert. Ich habe, um möglichst viele Beteiligte zu interviewen, unendlich viele Beziehungen geknüpft. Ich bin extra zu den drei Flughäfen gefahren, auf denen Wang Xiaoti Staffel geflogen ist, bin in seiner Heimat Zhejiang gewesen, habe mit einem Kriegskameraden aus seiner Jagdfliegerstaffel gesprochen, habe seinen Staffelkapitän und den stellvertretenden Kommodore, Oberstleutnant des Jagdgeschwaders, befragt, bin sogar in so einen Jagdflieger des Typs Shenyang J-5, wie er ihn flog, hineingestiegen und habe mit dem Leiter der Sondereinheit für die Abwehr antikommunistischer Machenschaften und dem Sektionschef des Sicherheitsdienstes im Kreisgesundheitsamt gesprochen. Man kann getrost behaupten, dass ich über Wang Xiaoti besser Bescheid weiß als jeder andere. Bedauerlich ist nur, dass ich ihn nie persönlich kennengelernt habe. Deinem Vater dagegen hatte deine Großtante mal erlaubt, sich vor der Vorstellung im Kino zu verstecken, um mit eigenen Augen zuzusehen, wie die beiden Hand in Hand in das Kino kamen. Sein Sitzplatz war dann unmittelbar neben dem Wang Xiaotis gewesen. So hatte dein Vater ihn uns später beschrieben: Einsfünfundsiebzig groß, vielleicht auch einssechsundsiebzig, blitzsaubere weiße Haut, langes, schmales Gesicht, kleine, aber sehr lebendige Augen, dazu gerade, strahlendweiße Zähne.
An jenem Abend hätten sie den sowjetischen Film Wie der Stahl gehärtet wurde gezeigt, eine Verfilmung nach dem gleichnamigen Roman von Nikolai Ostrowski. Zuerst habe er heimlich hinübergeschielt, ob die beiden sich wohl anfassten. Aber dann habe die Revolutions- und Liebesgeschichte auf der Leinwand ihn voll in ihren Bann gezogen. Damals habe es viele Brieffreundschaften zwischen sowjetischen und chinesischen Schülern gegeben. Das sowjetische Mädchen, mit dem sich dein Vater Briefe schrieb, hatte haargenau wie das Mädchen im Film Tonja geheißen. Deswegen hatte dein Vater, versunken in die Liebesgeschichte auf der Leinwand, vergessen, dass das Wichtigste im Leben immer die persönliche Berufung und die eigene Mission sind.