»Wir essen Kohlen, Mama.«
»Lehrerin, wir essen Kohlen! Möchten Sie auch probieren?«
Das hatte Wang Galle in der ersten Reihe gerufen und die Kohle hochgehalten. Ihr lautes Rufen ähnelte dem Fiepen von Kätzchen. Lehrerin Yu kam vom Katheder herunter und nahm die ihr dargebotene Kohle, hielt sie sich unter die Nase, um daran zu riechen und sie genau zu betrachten. Es verging eine lange Zeit, in der sie keinen Ton sprach. Dann gab sie die Kohle zurück und fuhr fort:
»Liebe Kinder, heute nehmen wir Lektion sechs durch. Die Fabel vom Raben und vom Fuchs. Der Rabe hatte einen Käse gestohlen und bildete sich viel darauf ein. Er flog damit auf einen Baum. Da kam der Fuchs vorbei. Der sprach zum Raben: ›Rabe, Sie singen ja bestens! Welch wunderschöner Klang! Ertönt Ihr Gesang, sollten alle Vögel auf der Welt stille schweigen!‹ Dem Raben verdrehten die Schmeicheleien des Fuchses so den Kopf, dass er den Schnabel aufsperrte, um ... O weh! Der fette Käse fiel hinunter und landete im Rachen des Fuchses.«
Dann übte unsere Lehrerin mit uns zusammen das Lesen der Fabel im Chor. Sie las vor, dann waren wir an der Reihe, mit unseren Mündern voll rabenschwarzer Kohle.
Lehrerin Yu besaß Bildung, hatte aber ihrem Sohn, so wie es bei uns auf dem Land Brauch ist, einen traditionellen Namen gegeben. Yu Hand schaffte später die Hochschuleintrittsprüfungen, so dass er Medizin studieren konnte. Nach dem Examen kehrte er zurück aufs Land und arbeitete bei uns im Kreiskrankenhaus als Chirurg. Als Chen Nase beim Häckseln vier Finger in den Schredder bekam, konnte Yu Hand ihm drei davon retten und wieder annähen.
2
Warum besaß Chen Nase eine so ungewöhnlich große Nase, die sich so deutlich von unseren Nasen unterschied? Das wird sicherlich nur seine Mutter aufschlussreich erklären können.
Nases Vater Chen Stirn war der einzige bei uns im Dorf, der zwei Frauen hatte. Er war belesen und kannte viele Schriftzeichen. Vor der Befreiung, dem Sieg der Kommunistischen Partei, hatte die Familie dreißig Morgen bestes Ackerland besessen, dazu eine Schnapsbrennerei und in Harbin ein Handelshaus. Seine Hauptfrau stammte aus unserem Dorf und gebar ihm vier Töchter. Vor der Befreiung hatte Chen Stirn längst das Weite gesucht, aber dann, es war um das Jahr 1951, hatte ihn Yuan Gesicht zusammen mit zwei Volksmilizionären in der Mandschurei aufgespürt, festgenommen und zurückgebracht. Seine Frau und die vier Töchter waren bei uns auf dem Land geblieben, denn er war allein abgehauen. Als er zurückkam, hatte er eine fremde Frau bei sich. Sie hatte gelbe Haare und blaue Augen, ich schätze, sie war damals Anfang dreißig. Alina war ihr Name. Im Arm hielt sie einen gefleckten Hund, einen Dalmatiner wahrscheinlich. Weil Chen Stirn sie schon vor 1949, also vor Gründung der Volksrepublik, geheiratet hatte, durfte er seine zwei Frauen vor dem Gesetz behalten. Bei uns im Dorf gab es ein paar arme Schlucker, die sich keine Frau leisten konnten. Sie erzürnten sich darüber maßlos und verlangten – halb im Scherz, aber sie schienen es dennoch ernst zu meinen –, dass Stirn ihnen eine seiner beiden Frauen abgeben solle. Stirns Gesichtsausdruck war Lachen und Weinen zugleich. Anfangs wohnten alle unter einem Dach, aber weil es zu Streit und Handgreiflichkeiten kam, keiner mehr ob des dauernden Lärms eine Auge zutun konnte, willigte Yuan Gesicht ein, dass die Zweitfrau in das kleine Seitenhaus neben der Schule zog. Das Schulgebäude hatte ursprünglich den Chens gehört und war einst die Schnapsbrennerei gewesen. Das Seitenhaus hatte ihnen auch gehört. Stirn einigte sich mit den beiden Frauen darauf, dass sie dort abwechselnd wohnen sollten. Dem gefleckten Hund der Frau mit den gelben Haaren aus Harbin machten die Dorfhunde den Garaus. Als er starb, war Alina hochschwanger und gebar kurz darauf Chen Nase. Man munkelte deswegen, dass der Säugling der wiedergeborene Dalmatiner sei. Und wirklich besaß er eine ungewöhnlich gute Nase. Vielleicht ist an dem Gerücht etwas dran. Meine Tante, die damals ihre Ausbildung zur Hebamme in der Kreisstadt schon beendet hatte – man hatte sie in neuen Methoden der Geburtshilfe ausgebildet –, war wieder zu uns aufs Land versetzt worden und ab 1953 die für uns zuständige Fachhebamme.
Die Dörfler widersetzten sich den neuen Geburtshilfemethoden, weil die alten Wehmütter böse Gerüchte streuten. Wenn man nach neuen Methoden entbinde, würden die Säuglinge windkrank.1 Warum die Wehmütter solche Gerüchte streuten? Weil durch die neuen Entbindungsmethoden ihre Einnahmequelle versiegte. Für eine Entbindung wurden ein reichliches Essen im Hause der Wöchnerin, dazu zwei Handtücher und zehn Hühnereier bezahlt. Kam man auf die Wehmütter zu sprechen, fing meine Tante sofort an, mit den Zähnen zu knirschen, so hasste sie diese alten Weiber. Die Tante sagte, unzählige Neugeborene und Gebärende seien unter den Händen dieser Hexen gestorben. Entsetzliche Schreckensbilder blieben mir von ihren Schilderungen im Gedächtnis, von üblen Mundgeruch verbreitenden Wehmüttern mit langen Fingernägeln und teuflisch grün blitzenden Augen. Tante berichtete, sie würden den Bauch der Gebärenden mit dem Nudelholz bearbeiten. Sie mit einem Lumpen knebeln! Als würden die Babys durch den Mund kommen. Und sie könnten nicht ansatzweise sezieren, wüssten gar nichts über die Anatomie des weiblichen Körpers. Bei schweren Geburten würden sie mit bloßen Händen im Geburtskanal herumfuhrwerken und blind herausziehen, was sie gerade zu packen kriegten. Das Kind samt Gebärmutter wäre auch schon von so mancher dieser Hexen herausgezogen worden. Lange Zeit hätte ich, wenn ich einen hätte aussuchen müssen, den man exekutieren sollte, spontan geantwortet: eine Wehmutter. Später konnte ich nach und nach begreifen, warum meine Tante so radikale Ansichten vertrat. Barbarische, rückständige Wehmütter gab es ohne Zweifel, aber genauso gab es solche, die nach jahrelangen Erfahrungen die Geheimnisse des weiblichen Körpers ergründet hatten und die sich sehr gut auskannten. Meine eigene Großmutter war schließlich auch eine Wehmutter, sie handelte nach dem Prinzip: möglichst wenig, besser gar nicht in naturgegebene Vorgänge eingreifen. Sie liebte das Sprichwort Der reife Apfel fällt allein vom Baum und vertrat die Meinung, eine gute Wehmutter spricht der Gebärenden zuerst einmal Mut zu, sie unterstützt sie, und wenn das Kind dann draußen ist, durchtrennt sie mit der Schere die Nabelschnur, pudert sie mit Ätzkalk, verbindet sie und fertig. Doch meine Großmutter war bei uns im Dorf nicht wohlgelitten, die Leute sagten über sie, dass sie faul sei. Wehmütter, die immer alle Hände voll zu tun hatten, außen zerrten, innen im Geburtskanal rumorten, laut schrien und, gleich der Gebärenden, von Kopf bis Fuß schweißüberströmt waren, waren bei den Leuten beliebt.
Meine Tante ist die Tochter meines Großonkels, des älteren Bruders meines Großvaters. Er war Feldarzt bei der Achten Route-Armee. Er hatte zwar seine Ausbildung zum Arzt der chinesischen Medizin gemacht, lernte aber in der Armee unter Henry Norman Bethune die westliche Medizin kennen. Bethunes Tod infolge einer Blutvergiftung traf meinen Großonkel so schwer, dass er lebensbedrohlich erkrankte. Er bat um Heimaturlaub, um seine Mutter ein letztes Mal zu sehen, denn er glaubte sterben zu müssen. Seine Einheit bewilligte den Urlaub, um seine Krankheit zu kurieren. Als er zu Hause eintraf, war meine Uroma auch tatsächlich noch am Leben. Er hatte seinen Fuß kaum über die Schwelle gesetzt, da stieg ihm auch schon der köstliche Duft süßer Mungobohnensuppe, die über dem Feuer brodelte, in die Nase, denn meine Uroma hatte eilig den Wok geschrubbt und Mungobohnen aufgesetzt, und sie hatte sich nicht dabei helfen lassen. Mit dem Krückstock hatte sie ihre Schwiegertochter vom Herd ferngehalten. Mein Großonkel setzte sich auf unsere Türschwelle und wartete ungeduldig.
Meine Tante Gugu erzählte uns, dass sie sich, obschon sie damals noch so klein war, an jenen Tag erinnern konnte und dass sie sich nicht getraut habe, ihn »Vater« zu rufen, als die Mutter sie dazu drängte, sondern sich hinter deren Rücken versteckte. Von klein auf hatte sie tagtäglich Mutter und Oma über den Vater reden hören. Aber als sie ihn endlich zu Gesicht bekam, war er ihr wie ein Fremder erschienen. Wie er so auf der Schwelle gesessen habe, erzählte sie mir, habe meines Onkels Gesicht wächsern ausgesehen, lange Haare habe er gehabt, und an seinem Hals habe sie die Flöhe krabbeln sehen. Aus seiner zerlumpten Jacke sei überall die Baumwollwatte hervorgequollen. Und sie sagte, ihre Oma, also unsere Uroma, habe bitterlich geweint, während sie die Mungobohnen kochte. Der Großonkel habe es nicht erwarten können und sofort, nachdem die Suppe fertig war – obwohl man sich doch die Zunge an einer heißen Suppe verbrennt –, die Schale zum Mund geführt und schnell zu trinken begonnen. Die Uroma habe gemahnt: »Trink nicht so hastig, mein Sohn, im Topf ist noch genug.«