Die Zeit im Krankenhaus war die erste in meinem Leben — abgesehen von meinen Ferien in Christchurch —, da ich Tag und Nacht rundum glücklich und zufrieden war. Warum? Weil ich dazugehörte.
Natürlich ist aus meinem Bericht zu ersehen, daß ich schon vor Jahren aufgestiegen war. Auf meinen Ausweisen standen nicht mehr die großen Buchstaben LA (oder auch KP). Ich konnte einen Toilettenraum betreten, ohne daß man mich in die hinterste Kabine verwies. Ein falscher Ausweis und eine gefälschte Familiengeschichte vermitteln aber kein Gefühl der Zugehörigkeit; sie verhindern lediglich, daß man benachteiligt und womöglich gedemütigt wird.
Unabhängig davon weiß man, daß es auf der ganzen Erde keine Nation gibt, die Wesen dieser Art als Bürger akzeptiert und daß es noch viele Orte gibt, die einen deportieren oder töten — oder gar verkaufen — würden, sollte man je die Tarnung verlieren.
Einer Künstlichen Person macht der Gedanke, keine Familiengeschichte zu haben, mehr zu schaffen als man sich gemeinhin vorstellt. Wo wurden Sie ge-boren? — Nun, ich bin nicht im eigentlichen Sinne geboren worden; ich wurde im Lebenstechnischen Laboratorium der Tri-Universität von Detroit entworfen. — Ach, wirklich? — Meine Zeugung wurde von der Mendelschen Sozietät in Zürich eingeleitet. — Ein hübsches Partygeplauder, nicht wahr! Sie werden so etwas nie zu hören bekommen; es macht sich gegenüber Vorfahren auf der Mayflower oder sonstigen geschichtlichen Bezügen zu karg aus. Meine Akten (zumindest eine Version) weisen aus, daß ich in Seattle „geboren“ wurde, einer zerstörten Stadt, die einen guten Vorwand liefert für verschwundene oder nicht vollständige Dokumente. Außerdem ein guter Ort, seine Verwandten zu verlieren.
Da ich nie in Seattle gewesen bin, habe ich sorgsam Unterlagen und Bilder studiert, wo ich sie finden konnte: ein echter Seattle-Eingeborener kann mich nicht hinters Licht führen. Nehme ich an. Zumindest noch nicht.
Was man mir jedoch hier schenkte, während ich mich von der Vergewaltigung und nicht ganz so lustigen Folterung erholte, war ganz und gar nicht gekünstelt, und ich brauchte mir keine Mühe zu geben das Gespinst meiner Lügen zu behüten. Nicht nur Goldie und Anna und der Jüngling (Terence) besuchten mich, sondern gut zwei Dutzend weitere Leute, ehe Dr. Krasny mich schließlich entließ. Und das waren nur die Leute, die ich zu Gesicht bekam.
An dem Überfall waren wesentlich mehr beteiligt gewesen. Ich weiß nicht, wie viele. Eine Grundregel des Chefs sorgte dafür, daß die Mitglieder der Organisation sich nur begegneten, wenn die Pflicht es erforderlich machte. Ähnlich wie er jeder Frage ent-schlossen aus dem Weg ging. Man kann keine Geheimnisse ausplaudern, die man nicht kennt, ebensowenig kann man eine Person verraten, die einem unbekannt geblieben ist.
Der Chef liebt seine Grundsätze aber nicht um der Grundsätze willen. Sobald man einen Kollegen im Dienst kennengelernt hat, durfte man den gesellschaftlichen Kontakt mit ihm fortsetzen. Der Chef ermutigte nicht gerade zu dieser Verbrüderung, aber er war kein Dummkopf und verzichtete auf ein diesbezügliches Verbot. Folglich suchte mich Anna oft spätabends auf, ehe sie ihren Dienst antrat.
Das Versprechen löste sie nicht ein. Zwar bestand im Grunde wenig Gelegenheit dazu, doch wir hätten schon eine Möglichkeit gefunden, wenn wir es versucht hätten. Ich versuchte sie nicht abzuwehren — Himmel, nein! Hätte sie mir je ihre Rechnung präsentiert, hätte ich sie nicht nur bereitwillig gezahlt, sondern Anna auch in dem Glauben lassen wollen, daß der Impuls dazu von mir ausging.
Aber sie tat es nicht. Ich glaube, sie glich jenem empfindsamen (und ziemlich seltenen) Typ von Mann, der sich einer Frau nicht nähert, wenn sie es nicht will — er spürt so etwas und versucht es erst gar nicht.
Eines Abends kurz vor meiner Entlassung war ich besonders froh — an diesem Tag hatte ich zwei neue Freunde gewonnen, „Kußfreunde“, Kollegen, die bei dem Rettungseinsatz mitgewirkt hatten. Ich versuchte Anna zu erklären, warum mir das alles soviel bedeute, und stellte plötzlich fest, daß ich im Begriff stand zu offenbaren, wie es kam, daß ich nicht das sei, was ich zu sein schien.Doch sie unterbrach mich. „Meine liebe Freitag, jetzt hören Sie mal auf die Worte Ihrer großen Schwester.“
„Wie? Habe ich ins Fettnäpfchen getreten?“
„Vielleicht wollten Sie es eben tun. Erinnern Sie sich noch an den Abend, an dem wir uns kennenlernten? Sie gaben durch mich ein Geheimdokument zurück. Vor Jahren hat Mr. Doppelkrücke mich in die höchste Sicherheitsstufe befördert. Das von Ihnen zurückgegebene Buch befindet sich an einem Ort, wo es jederzeit für mich zugänglich wäre. Ich habe es aber nie geöffnet und werde das auch nicht tun. Auf dem Umschlag steht: ›Bedarfsnachweis‹, und niemand hat mir bisher gesagt, daß ich den Inhalt kennen müßte.
Sie haben die Akte gelesen, ich aber weiß nicht einmal den Titel oder das Thema — lediglich die Aktennummer.
Ähnlich liegt es bei Personaldingen. Es gab früher einmal eine militärische Elitetruppe, eine Art Fremdenlegion, die sich damit brüstete, daß ein Legionär vor dem Tag seines Eintritts in die Truppe keine persönliche Geschichte hätte. Und so möchte das Mr.
Doppelkrücke auch bei uns sehen. Würden wir beispielsweise ein lebendiges Artefakt, eine Künstliche Person, in die Organisation aufnehmen, wäre das dem Personalsachbearbeiter natürlich bekannt. Ich weiß darüber Bescheid, weil ich auf dem Posten schon gesessen habe. Da gab es Akten zu fälschen möglicherweise mußten Schönheitsoperationen vorgenommen werden, dann galt es Labor-Identifikationen auszumerzen und Hautstellen zu regenerieren …
Wenn wir mit dem oder der Betreffenden fertig waren, brauchte er oder sie sich nie wieder Sorgen zu machen über eine Hand auf der Schulter oder um ei-ne Benachteiligung im täglichen Leben. Er konnte sogar heiraten und Kinder bekommen, ohne fürchten zu müssen, daß sie eines Tages Nachteile haben würden. Er brauchte sich auch um mich keine Gedanken zu machen, da ich sehr geübt im Vergessen bin. Und jetzt zu Ihnen, meine Liebe. Ich weiß nicht recht, was Sie eben im Sinne hatten. Aber wenn es sich um etwas handelt, das Sie anderen Leuten normalerweise nicht auf die Nase binden, dann sollten Sie es auch mir nicht sagen. Sonst täte es Ihnen morgen früh womöglich leid.“
„Nein, bestimmt nicht!“
„Na schön. Wenn Sie es mir heute in einer Woche noch sagen wollen, dann höre ich gern zu. Abgemacht?“
Anna hatte recht; eine Woche später war mir nicht mehr danach zumute, ihr die Wahrheit zu sagen. Ich bin zu neunundneunzig Prozent davon überzeugt daß sie Bescheid wußte. Wie dem auch sei es ist ein herrliches Gefühl, um seiner selbst willen geliebt zu werden, von jemandem, der KP nicht für untermenschliche Monster hält.
Ich weiß nicht, ob einer meiner übrigen netten Freunde Bescheid wußte oder etwas ahnte. (Damit meine ich nicht den Chef, der natürlich informiert war. Aber er war ja auch kein Freund von mir; er war der Chef.) Dabei war es unwichtig, ob meine neuen Freunde erfuhren, daß ich kein richtiger Mensch war oder nicht, denn ich war zu der Überzeugung gelangt, daß es ihnen wohl nichts ausmachte. Ihnen kam es allein darauf an, ob man zur Truppe des Chefs gehörte oder nicht.Eines Abends erschien der Chef in meinem Zimmer; er ließ die Krücken auf den Boden poltern und atmete schwer. Hinter ihm trat Goldie ein. Schwerfällig ließ er sich in den Besucherstuhl sinken und sagte zu Goldie: „Ich brauche Sie nicht, Schwester. Vielen Dank.“ Dann wandte er sich an mich: „Ziehen Sie sich aus!“
Bei jedem anderen Mann wäre eine solche Äußerung entweder kränkend oder willkommen gewesen — je nachdem. Beim Chef bedeuteten die Worte lediglich, daß er mich ohne Kleidung inspizieren wollte.