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Während Ian und ich in dieses wortlose Gespräch vertieft waren, verließ Betty das Zimmer und kehrte mit einem roten Wickelrock zurück. „Zeit zum Tee“ verkündete sie und stieß dabei verstohlen auf. „Also raus aus der Zivilkleidung. Ziehen Sie das an, meine Liebe!“

War das ihr Einfall? Oder der seine? Schon nach kurzer Zeit kam ich zu dem Schluß, daß sie es gewesen sein mußte. Ians einfaches, gesundes Begehren war zwar so deutlich spürbar wie ein Hieb ins Gesicht, doch war er im Grunde auf seine Art ziemlich kleinbürgerlich. Ganz im Gegensatz zu Betty, die wirklich über alle Stränge schlug. Mir war das gleichgültig, da dies im Augenblick die Richtung war, die auch ich einschlagen wollte. Nackte Füße können so aufregend sein wie nackte Brüste, obwohl die meisten Menschen das nicht zu wissen scheinen. Ein in einen Wickelrock gekleidetes Mädchen ist provokativer alsein ganz nackter Körper. Diese Party kam mir gerade recht, und sicher konnte ich mich darauf verlassen daß Ian die Aufsicht seiner Schwester im rechten Augenblick abschütteln würde. Durchaus möglich, daß Betty Eintrittskarten dafür verkaufen würde. Aber ich dachte nicht weiter darüber nach.

Ich betrank mich.

Wie gründlich ich dabei vorging, wurde mir erst am nächsten Morgen klar, als ich aufwachte und bei mir im Bett einen Mann entdeckte, der nicht Ian Tormey war.

Mehrere Minuten lang blieb ich reglos liegen und schaute ihm beim Schnarchen zu, während ich meine gin-verdunstete Erinnerung durchforschte und ein Plätzchen für ihn suchte. Im Grunde bin ich dafür daß eine Frau einem Mann zumindest vorgestellt wird, ehe sie die Nacht mit ihm verbringt. Hatte man uns formell bekanntgemacht? Hatten wir uns überhaupt begrüßt?

Stückweise fiel es mir wieder ein. Name: Professor Federico Farnese, wahlweise „Freddie“ oder „Chubby“ genannt. (Dabei war er gar nicht „chubby“ rundlich, sondern hatte nur ein kleines Bäuchlein von zuviel Schreibtischarbeit.) Bettys Ehemann, Ians Schwager. Ich erinnerte mich vage an ihn, wußte aber nicht mehr, wann er eingetroffen war oder warum er überhaupt fort gewesen war — wenn ich das überhaupt je gewußt hatte.

Sobald ich ihn untergebracht hatte, überraschte mich der Umstand, daß ich (anscheinend) die Nacht mit ihm verbracht hatte, nicht mehr sonderlich. In dem Gemütszustand, in dem ich mich gestern befunden hatte, wäre kein Mann vor mir sicher gewesen.Eine Frage aber machte mir zu schaffen: Hatte ich meinem Gastgeber den Laufpaß gegeben, um einem anderen Mann nachzujagen? Das wäre nicht sehr höflich, — Freitag — kein guter Stil.

Ich bohrte tiefer in meinem Gedächtnis nach. Nein mindestens einmal hatte ich Ian doch die Ehre erwiesen. Und diese Erkenntnis freute mich sehr. Und Ian hatte es auch Vergnügen bereitet, wenn seine Äußerungen ernst gemeint waren. Dann aber hatte ich ihm den Rücken zugekehrt, aber auf seine Bitte. Nein, ich hatte meinen Gastgeber nicht abblitzen lassen, und er war sehr nett zu mir gewesen — genau, was ich gebraucht hatte, um zu vergessen, wie übel Anitas Bande selbstgerechter Rassisten mich beschwindelt und verstoßen hatte.

Mir fiel ein, daß meinem Gastgeber später von dem Spätankömmling Hilfe zuteil geworden war. Es überrascht ja auch nicht, daß eine gefühlsmäßig aufgewühlte Frau mehr Trost braucht, als ein Mann allein ihr spenden kann — aber ich wußte nicht mehr, wie die Sache vor sich gegangen war. Ein Tausch auf Gegenseitigkeit? Sei nicht neugierig Freitag! Eine KP vermag sich auf die verschiedenen Tabus menschlicher Geschlechtlichkeit kaum einzustellen oder sie gar zu verstehen — allerdings hatte ich mir die vielen vielen verschiedenen Regeln während meiner erotischen Grundausbildung gut eingeprägt, und ich wußte, daß dieses Tabu zu den stärksten gehört, eine Sache, die die meisten verheimlichten, selbst wenn über alles andere offen gesprochen wurde.

So nahm ich mir vor, nicht das geringste Interesse daran zu zeigen.Freddie stellte das Schnarchen ein und öffnete die Augen. Er gähnte, streckte sich, dann sah er mich und zog ein verwirrtes Gesicht, schließlich grinste er und streckte den Arm nach mir aus. Ich beantwortete sein Lächeln und seine Bewegung und war bereit mitzumachen, als Ian das Zimmer betrat. „Guten Morgen Marj“, sagte er. „Freddie, tut mir leid, euch zu stören aber ich habe bereits eine Droschke warten. Marj muß aufstehen und sich anziehen. Wir fahren sofort ab.“

Freddie ließ mich nicht los. Er schnalzte lediglich mit der Zunge und zitierte:

„Setzt sich ein Gelbschnab’vogel fett Auf mein schmales Fensterbrett.

Und blitzt mich boshaft an und spricht:

›Du Schlafmütz, schämst du dich denn nicht? ‹“

„Captain, dein Pflichtgefühl und dein Bemühen um das Wohlergehen unseres Gastes spricht für dich.

Wann mußt du am Flughafen sein? Minus zwei Stunden? Und du startest genau um zwölf Uhr? Ja?“

„Ja, aber …“

„Wohingegen Helen — du heißt doch Helen, oder? — sich durchaus noch dreißig Minuten vor dem Start am Abflug einfinden kann. Dafür will ich gern sorgen. Aber vorher wollen wir …“

„Fred, ich will ja kein Spielverderber sein, aber es kann hier draußen bis zu einer Stunde dauern, eine Droschke zu bekommen, das weißt du so gut wie ich.

Ich habe einen Wagen vor der Tür stehen.“

„Da hast du recht. Droschkenkutscher gehen uns aus dem Weg; den Pferden liegt unser Hügel nicht.

Aus diesem Grund, mein lieber Schwager, habe ichschon gestern abend einen Wagen gemietet und dafür einen Sack voller Gold als Pfand hinterlassen. In diesem Augenblick steht die getreue alte Rosinante in einer Stallbox des Hausmeisters und stärkt sich mit köstlichem Mais für die bevorstehenden Mühen.

Wenn ich unten anrufe, wird besagter Hausmeister mit Schmiergeld gefügig gemacht, das liebe Tier anschirren und das Gespann zum Eingang geleiten.

Womit ich dann Helen nicht später als einunddreißig Minuten vor dem Start am Abflugsteig abliefern werde. Und dafür verpfände ich das Pfund Fleisch, das deinem Herzen am nächsten liegt.“

„Deinem Herzen, meinst du wohl.“

„Ich habe mir mit der Formulierung größte Mühe gegeben.“

„Nun also — Marj, was meinst du dazu?“

„Äh … wäre es dir recht, Ian? Ich habe eigentlich noch keine Lust, sofort aus dem Bett zu springen.

Andererseits möchte ich dein Schiff nicht verpassen.“

„Wirst du auch nicht. Freddie ist ganz zuverlässig; er sieht nur nicht danach aus. Aber brecht um elf Uhr auf; dann könntet ihr es notfalls auch zu Fuß schaffen. Ich kann deine Reservierung über die Abfertigungssperre hinaus offenhalten; ein Captain hat eben doch ein paar Privilegien. Nun denn, bumst ruhig weiter!“ Ian warf einen Blick auf seinen Uhrenfinger.

„Neun Uhr. Tschüs!“

„He! Bekomme ich keinen Abschiedskuß?“

„Warum? Ich sehe dich doch an Bord. Außerdem haben wir in Winnipeg eine Verabredung.“

„Küß mich, verdammt, oder ich verpasse dein blödes Schiff!“

„Dann lös dich doch von dem fetten Römer da undpaß auf, daß du mir die Uniform nicht fleckig machst!“

„Laß das lieber sein, alter Knabe. Ich küsse Helen für dich.“

Ian beugte sich herab und küßte mich gründlich und ich brachte ihm seine hübsche Uniform nicht durcheinander. Dann gab er Freddie einen Kuß auf die kahle Stelle seines Schädels. „Vergnügt euch Leute! Aber bring sie rechtzeitig zum Abflug. Bis dann!“ In diesem Augenblick schaute Betty durch die Tür; ihr Bruder legte einen Arm um sie und nahm sie mit.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder Freddie zu. „Helen“, sagte er. „Jetzt geht’s los, mach dich bereit!“ Dieser Aufforderung kam ich nur zu gern nach während ich mir sagte, daß Ian und Betty und Freddie genau die richtige Medizin waren, um Freitag von den Folgen der puritanischen Heucheleien zu heilen mit denen ich zu lange hatte leben müssen.