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Rekonstruktion der Ereignisse: Die Brit-Kans entdeckten auf ihrer Seite einen Gürtel; die Grünen fanden auf ihrer Seite ebenfalls einen Gürtel. Keine der beiden Seiten hatte Grund zu der Annahme, daß da mehr als ein Flüchtling durch das Loch gekrochen war — solange der Gefangene den Mund hielt.

Ich finde das sehr anständig von ihm. Es gibt Männer, die hätten mir wegen des kleinen Schlages gegrollt, den ich ihm verpassen mußte.

Ich blieb bis zum Dunkelwerden in der Baumgruppe dreizehn endlose Stunden lang. Ich wollte niemandem auffallen, bis ich Janet (und — wenn ich Glück hatte — auch Ian) erreichte; ein illegaler Einwanderer strebt nicht nach Publicity. Es war ein langer Tag doch hatte mir mein geistiger Guru mit seinem Training immerhin beigebracht, mit Hunger, Durst und Langeweile fertigzuwerden, wenn man unbedingt still, wach und wachsam bleiben muß. Als die Dunkelheit sich verdichtet hatte, begann ich meinen Marsch. Ich kannte das Terrain, so gut das nach ei-nem Studium von Karten möglich ist, hatte ich mich doch vor knapp zwei Wochen in Janets Haus eingehend mit der Grenze beschäftigt. Das vor mir liegende Problem war weder kompliziert noch schwierig auszuräumen: Zu Fuß mußte ich bis zum Morgengrauen ungefähr hundertundzehn Kilometer zurücklegen und mich dabei von niemandem blicken lassen.

Der Weg war einfach. Zuerst ein wenig nach Osten bis ich die Straße von Lancaster (Imperium) nach La Rochelle (Britisch-Kanada) erreichte. Da gab es einen Grenzübergang, der leicht auszumachen war. Dann nach Norden bis in die Außenbezirke von Winnipeg dann links im Bogen um die Stadt herum, bis die Nord-Süd-Straße zum Flughafen erreicht ist. Von dort war Stonewall nur noch einen Steinwurf weit und das Tormey-Anwesen befand sich ganz in der Nähe. Diesen letzten und schwierigeren Abschnitt kannte ich nicht nur aus der Theorie, sondern von einer kürzlichen Fahrt in einem Pferdewagen, in dem mich außer einigen freundschaftlichen Tätscheleien nichts von meiner Umgebung abgelenkt hatte.

Der erste graue Schimmer lag in der Luft, als ich die Außentore Tormeys erblickte. Ich war müde, aber nicht in schlechter Verfassung. Den Wechsel zwischen Gehen-Joggen-Laufen-Gehen-Joggen-Laufen kann ich notfalls vierundzwanzig Stunden durchhalten, was ich im Training auch geschafft hatte; eine Nacht hindurch ist also ganz annehmbar. Vor allem taten mir die Füße weh, und ich war sehr durstig. In freudiger Erleichterung drückte ich auf den Türknopf.

Und hörte sofort: „Hier spricht Captain Ian Tor-mey. Dies ist eine Aufzeichnung. Dieses Haus wird durch die Bewachungsfirma der Winnipeg-Werwölfe geschützt. Ich habe diese Firma beauftragt, weil ich nicht der Meinung bin, daß ihr Ruf der Schießfreudigkeit berechtigt ist; vielmehr geht es ihr wirklich um den Schutz der Kunden. Anrufe werden nicht weitergeschaltet, allerdings wird die Post, die hier eintrifft, weitergeschickt. Vielen Dank fürs Zuhören.“

Und auch dir vielen Dank, Ian! Oh, verdammt, verdammt, verdammt! Ich wußte, ich hatte keinen Grund, zu erwarten, daß die beiden zu Hause bleiben würden — doch ich hatte mit keinem Gedanken die Möglichkeit in Erwägung gezogen, daß sie sich vielleicht nicht hier aufhielten. Ich hatte eine Verdrängung bewerkstelligt, wie die Psychiater es nennen; nachdem ich meine EnEs-Familie verloren hatte und der Chef nun vermißt wurde und womöglich tot war stellte das Tormey-Anwesen mein „Zuhause“ dar und Janet die Mutter, die ich nie gehabt hatte.

Ich wünschte, ich wäre wieder auf dem Hof der Hunters, umgeben von der liebevollen Fürsorge Mrs.

Hunters. Ich wünschte, ich wäre in Vicksburg und teilte meine Einsamkeit mit Georges.

Schon ging die Sonne auf, bald würden sich die Straßen füllen, und ich war ein illegaler Einwanderer der so gut wie keine Brit-Kan-Dollars bei sich hatte und von dem Bedürfnis beseelt war, nicht aufgespürt nicht verhaftet und nicht verhört zu werden, außerdem schon schwindlig vor Müdigkeit, Hunger und Durst.

Allerdings brauchte ich keine schwierigen Entscheidungen zu treffen, da mir nur eine Möglichkeit blieb. Ich mußte mich wieder wie ein Tier verstecken,und zwar schnell, ehe der Verkehr die Straßen füllte.

Wälder sind in der Nähe Winnipegs nicht gerade oft zu finden, doch ich erinnerte mich an einige Hektar Wildwuchs zur Linken, abseits der Hauptstraße und mehr oder weniger hinter dem TormeyGrundstück — unebener Grund unterhalb des Hügels auf dem Janet gebaut hatte. So schlug ich diese Richtung ein und begegnete dabei nur einem Lieferwagen für Milch. Sonst gab es keinen Verkehr.

Sobald ich die Zone des Bewuchses erreicht hatte verließ ich die Straße. Der Boden war hier sehr uneben, und ich mußte aufpassen, wohin ich trat. Nach kurzer Zeit erreichte ich jedoch etwas, das mir noch willkommener war als die Bäume: einen Bach, so schmal, daß ich ihn mit leichtem Schritt überqueren konnte.

Was ich auch tat, doch erst, nachdem ich daraus getrunken hatte. Ob das Wasser sauber war? Vermutlich war es verseucht, aber ich scherte mich nicht darum; mein seltsames „Geburtsrecht“ schützt mich vor den meisten Infektionen. Das Wasser schmeckte sauber, und ich trank ziemlich viel und fühlte mich hinterher körperlich erfrischt — allerdings lastete mir noch ein Stein auf dem Herzen.

Ich drang tiefer ins Dickicht ein und suchte nach einem Ort, der mir nicht nur als Versteck dienen sondern den ich auch als Schlafplatz benutzen konnte. Sechs Stunden Schlaf vor zwei Nächten, das war ziemlich lange her, außerdem kann es einem so dicht bei einer großen Stadt geschehen, daß eine Pfadfinderschar des Weges kommt und einen in der Wildnis aufscheucht. Folglich suchte ich eine Stelle, die nicht nur durch Büsche geschützt, sondern auch sonstziemlich unzugänglich war.

Ich fand sie. Eine ziemlich steile Stelle an der Seite einer Schlucht, zusätzlich abgegrenzt durch Dornbüsche, die ich via Blindenschrift ausfindig machte.

Dornbüsche?

Es kostete mich etwa zehn Minuten zu finden, was ich suchte, da es äußerlich wie ein Felsbrocken geformt war, der aus der Eiszeit stammte. Als ich aber näher hinschaute, sah mir das Material doch nicht ganz nach Gestein aus. Noch länger dauerte es, bis ich mit den Fingern eine Stelle gefunden hatte, an der ich die Tür anheben konnte — doch schon ließ sie sich leicht zur Seite schwingen, denn sie war zum Teil mit Gegengewichten versehen. Ich trat geduckt ein und ließ die Sperre hinter mir wieder zufallen …

… und befand mich in totaler Dunkelheit, in der nur die grellen Buchstaben leuchteten: PRIVATBESITZ — BETRETEN STRENG VERBOTEN!

Ich blieb stehen und ließ meine Gedanken wandern. Janet hatte mir gesagt, der Schalter, der die Todesfallen lahmlegte, sei „ein kurzes Stück innerhalb versteckt“.

Wie lang ist ein „kurzes Stück“?

Und wie gut war die Installation versteckt?

Das Versteck war gut, einfach weil es bis auf die unheildrohend leuchtenden Buchstaben hier unten tintenschwarz war. Sie hätten genausogut androhen können: „Wenn du hier eintrittst, laß alle Hoffnung fahren.“

Also heraus mit deiner Taschenlampe, Freitag, die ihre eigene kleine Shipstone-Energieversorgung hat dann mach dich an die Suche. Aber wage dich nicht zu weit vor!In dem kleinen Koffer, den ich auf der Skip To M’Lou zurückgelassen hatte, befand sich in der Tat eine Lampe. Vielleicht schimmerte sie in diesem Augenblick sogar und sorgte für Unterhaltung bei den Fischen auf dem Grunde des Mississippi. Und ich wußte, daß weiter unten im Tunnel weitere Lampen gelagert waren.

Ich hatte nicht einmal ein Streichholz.

Wäre ein Pfadfinder bei mir gewesen, hätte ich Feuer machen können, indem ich seine Hinterbeine aneinanderrieb. Ach, schon gut, Freitag!

Ich sank auf den Boden und ließ den Tränen freien Lauf. Dann streckte ich mich auf dem (harten, kalten)

(willkommenen und weichen) Betonboden aus und schlief ein.

20. Kapitel