Aus dem Englischen
von Wieland Freund
Mit Illustrationen von
Franziska Harvey
Für Zoe, Max und Lily
Der Zufallszauber
Der Tag, an dem Max zufällig den Froschzauber entdeckte, begann wie jeder andere Tag auf Burg Periculum. Max und seine Schwester Olivia kamen wie immer zu spät zum Frühstück. Olivia hatte ihrem Schoßdrachen Adolphus noch ein Kunststück beibringen wollen und Max hatte über einen neuen Zaubertrank gegrübelt.
Am Frühstückstisch las er noch immer in seinem Zauberbuch und kaute gedankenverloren an einer Wurst. Olivia machte sich gerade zufrieden über ihre zweite Schüssel Haferbrei her.
Plötzlich platzte ihre Mutter, Lady Griselda Pendragon, in den Speisesaal. Wie immer war sie in Eile und stolperte über Adolphus.
»Aaarrghhh! Dieser verflixte Drache! Max! Ich brauche meinen Besen! Hast du ihn schon wieder benutzt? Du weißt, was dein Vater beim letzten Mal dazu gesagt hat.«
Max sah von seinem Frühstück auf. Genau genommen konnte er sich nicht erinnern, was sein Vater beim letzten Mal dazu gesagt hatte, aber er konnte es sich denken.
Sir Bertram Pendragon war ein raubeiniger, vierschrötiger Ritter mit einem gewaltigen Schnurrbart und einer tiefen Stimme. Nichts schätzte er mehr als einen Krug guten Biers und einen treuen Feind, dem er eins mit dem Schwert überziehen konnte. Zauberei hingegen konnte er gar nicht leiden. Zaubern, fand er, war wie Schummeln. Dass Lady Griselda hexte, nahm er hin, und Max durfte auch ein paar Formeln und Tränke lernen. Aber dass Max auf dem Besen ritt, kam überhaupt nicht infrage. Das war zu mädchenhaft.
Max seufzte. Wahrscheinlich hatte sein Vater gedroht, ihn im Schweinestall schlafen zu lassen, sollte er ihn je wieder auf dem Besen erwischen.
»Max!«, rief seine Mutter wieder. »Hast du ihn irgendwo verbummelt?«
Max überlegte. Ganz bestimmt hatte er den Besen zuletzt benutzt. Denn er konnte sich entsinnen, Olivia damit in den Burggraben geschubst zu haben, als sie Sir Gawain und der schwarze Ritter der Verdammnis gespielt hatten.
Er schielte zu seiner Schwester hinüber. Sie trug ein langes grünes Gewand und hielt sittsam den Blick gesenkt. Aber das täuschte. Am liebsten veranstaltete Olivia Ringkämpfe mit den Schildknappen oder tobte durch die Pferdeställe. Und dass es Max gelungen war, sie in den Burggraben zu schubsen, war eigentlich ein Wunder gewesen. Normalerweise war es nämlich andersherum.
Für seine elf Jahre war Max klein, ein schmaler Junge mit struppigem hellbraunem Haar und einem sommersprossigen Gesicht. Außerdem war Max nicht besonders geschickt und traf die meisten Ziele nicht, die er anpeilte.
Plötzlich wusste er wieder, wo der Besen war. Max war mit ihm zum Glockenturm hinaufgeflogen, um Adolphus zu retten. Der hatte sich nicht mehr heruntergetraut, nachdem er die Burgkatze hinaufgescheucht hatte. Dann aber hatte sich Adolphus auch nicht auf den Besen getraut. Also hatte Max den Drachen die ganze lange Wendeltreppe nach unten getragen.
»Wahrscheinlich ist der Besen oben auf dem Glockenturm, Mama«, sagte Max und widmete sich wieder seiner Wurst. »Olivia hatte ihn dort oben, als sie mit ihren Puppen gespielt hat.«
Olivia sah von ihrem Haferbrei auf, öffnete den Mund und wollte schon protestieren: Das sei überhaupt nicht wahr, sie habe nicht mal eine Puppe und Max sei ein Schleimbeutel … Aber da war ihre Mutter schon weg und außer ein paar grünen Rauchschwaden war nichts von ihr übrig.
»Du bist ein verdammter Lügner, Max«, sagte Olivia und schoss einen Löffel voll Haferbrei auf ihn ab. Er duckte sich und verpasste ihr unter dem Tisch einen Fußtritt.
»Auu! Das kriegst du wieder!«
»Versuch’s doch«, sagte Max, kletterte vom Stuhl und ging zur Tür. »Aber später, bitte. Jetzt habe ich nämlich zu tun.
Also lass mich bloß in Ruhe, sonst zaubere ich dir mit meiner neuen Formel ein lila Gesicht.«
Dann machte er sich zum Zauberzimmer auf, um an seinem neuen Zaubertrank zu arbeiten.
Das Zauberzimmer befand sich im Keller der Burg, eine steile Steintreppe tiefer, wo sanft hin und her schwingende Spinnweben von der Decke hingen. Max liebte es hier unten. Hier konnte er mit seinen Formeln und Tränken herumexperimentieren. Und hierhin flüchtete er sich, wenn sein Vater Schwertkampf mit ihm üben wollte. Letzte Woche hatte Sir Bertram ein besonders schwieriges Manöver vorführen wollen und dabei einem Knappen versehentlich einen Finger abgeschlagen. Und auch wenn es Lady Griselda gelungen war, den Finger wieder an die Hand zu hexen, war Max nicht besonders scharf darauf, Sir Bertrams nächstes Opfer zu werden. Er hatte eine bessere Idee.
In nicht einmal einer Woche würde auf Burg Camelot das Jährliche Festival der Magie stattfinden. Max war fest entschlossen, bis dahin einen wahrhaft atemberaubenden Zauber für den Zauberer-Nachwuchs-Wettbewerb vorzubereiten. Abgesehen von den zwanzig Goldmünzen Preisgeld erhoffte er sich, dass ein Sieg seinen Vater ein für allemal davon überzeugen würde, dass Max ein geborener Zauberer war, der die Ritterschule getrost vergessen sollte, um sich ganz auf die Zauberei zu konzentrieren. Bislang hatte Sir Bertram Max’ sämtlichen Bitten widerstanden und darauf beharrt, dass Max sich bloß mehr Mühe geben müsse. Dann würde schon noch ein ordentlicher Ritter aus ihm. Aber Max konnte Pferde nicht leiden, und als er das letzte Mal mit einer Lanze auf eine Strohpuppe losgeritten war, hatte er versehentlich fast Sir Bertram aufgespießt, obwohl der fünfzehn Meter weiter weg stand.
Max konnte einfach viel besser zaubern als reiten oder kämpfen. Zwar war es bei den letzten Zauberer-Nachwuchs-Wettbewerben für ihn nicht gut gelaufen, aber das lag hauptsächlich an Adrian Hogsbottom, Max’ ärgstem Feind.
Max konnte sich nicht erinnern, wann genau sich Adrian Hogsbottom als schleimigste Unkenwarze im ganzen Königreich entpuppt hatte. In jedem Fall aber war es eine Ewigkeit her, dass er ein freundliches Wort mit ihm gewechselt hatte. Vorletztes Jahr hatte Adrian die Bühne genau in dem Augenblick in Flammen aufgehen lassen, als Max’ exakt berechneter Feuerwerkszauber auf seinen triumphalen Höhepunkt zusteuerte. Max hatte die Schuld bekommen und Adrian den Preis.
Max’ sommersprossiges Gesicht wurde immer noch rot vor Wut, wenn er an den Wettbewerb im letzten Jahr dachte. Er hatte einen Eimer so verzaubern wollen, dass er das Wasser aus dem Burgbrunnen ganz allein holte. Aber dann hatte der Eimer das Wasser ganz allein über dem Kopf des Prüfers ausgekippt.
Adrian hatte wieder gewonnen. Dieses Jahr musste Max es einfach schaffen.
Während Max herumprobierte und mixte und immer wieder in seinem Zauberbuch nachschaute, rief seine Mutter die Treppenstufen herunter: »Max! Ich muss jetzt los, nach Burg Pendennis – Lady Alys will einen Schönheitstrank für den Ball heute Abend. Dein Vater sitzt an der Tafelrunde, aber Miss Mudfoot wird ein Auge auf dich haben.«
»Ja, okay«, rief Max hinauf, während er ein paar silberne Libellenflügel in den Zauberkessel streute und zusah, wie blauer Dampf bis an die Kellerdecke aufstieg.
Miss Mudfoot war die Burgköchin. Sie hatte ein zwanzigfach gefaltetes Doppelkinn und zwei Mal so viele haarige Warzen. Ständig suchte sie nach einer Gelegenheit, Max in einen ihrer Kochtöpfe zu stecken und in einen leckeren Eintopf zu verwandeln. Max versuchte ihr, so gut es ging, aus dem Weg zu gehen.