Max schluckte.
Adrian war viel größer und schwerer als er. Und wenn Grimm sich in Adrians Hosenbeine verbeißen sollte, würde das seine eigenen Chancen auch nicht wesentlich verbessern. Doch er würde das Feld nicht kampflos räumen. Er versuchte, sich krampfhaft daran zu erinnern, was ihm sein Vater über Faustkämpfe beigebracht hatte. Hätte er doch beim Boxunterricht besser aufgepasst! Wäre er doch nicht so klein! Hätte er doch einen größeren Bizeps …
Max schätzte die Entfernung zu Adrians Gesicht ab. Einen einzigen Tipp von Sir Bertram hatte er behalten: Stracks auf die Nase, mein Sohn. Dann, wenn sie am wenigsten damit rechnen. Leg dein ganzes Gewicht in den Schlag!
Adrian griff in seine Jackentasche und war im Begriff, eine kleine Flasche hervorzuholen. Jetzt oder nie!
Mit den Beinen drückte Max sich ab, mit vorgestreckten Armen flog er heran, mit der Faust zielte er genau in die Mitte von Adrians überraschtem Gesicht.
WUMM!
Der Schlag ging total daneben. Max’ Faust berührte Adrian nicht einmal.
Die Wucht, mit der Max aber auf Adrian fiel, holte den größeren Jungen von den Füßen. Adrian stürzte rücklings gegen die Hüttenwand, krachte mit dem Kopf gegen die Steine und sackte wie ein Beutel Schweineschmalz zusammen.
Max rappelte sich auf und sah auf Adrian hinab. Adrian war komisch grün im Gesicht und offensichtlich komplett außer Gefecht gesetzt. Aber immerhin atmete er noch.
»Wow!«, sagte der Prinz voller Ehrfurcht. »Das war Klasse!«
»Ja, gut gemacht, Max«, sagte Grimm, hockte sich auf Adrians Bauch und putzte seelenruhig seine Barthaare. »Ohne meine gezielte Knabberei an seinen Knöcheln hättest du es natürlich nicht geschafft. Aber trotzdem – dein Vater wäre stolz auf dich!«
Max holte tief Luft. Er konnte es kaum glauben. Er hatte Adrian einfach so k.o. geschlagen und Adolphus hatte Jakob Gott weiß wohin gejagt. Wie es aussah, hatte er den Prinzen tatsächlich gerettet. Er führte das Kommando! Auf einmal wurde Max ganz anders zumute. Er musste sich setzen, bevor seine Knie nachgaben.
In diesem Augenblick kam Adolphus durch die Tür geflogen. Das Feuer, das er ausstieß, hatte wieder die richtige Farbe. Glücklich und aufgeregt flatterte der Drache über ihren Köpfen umher.
»Habt ihr das gesehen? Ich habe ihn verjagt! Am Ende hat er eines der Pferde wiedergefunden und ist in die völlig falsche Richtung galoppiert. Weg von der Burg! Das hat vielleicht Spaß gemacht! Und habt ihr meinen gewaltigen Feuerstoß gesehen? Gerade eben? Jippie!«
»Toll, Adolphus, ganz toll«, sagte Grimm schnell. »Aber beruhig dich, bevor du noch die Hütte abfackelst. Das würde uns jetzt noch fehlen – die Helden der Stunde von ihrem hirnlosen Kameraden kross gebraten.«
Adolphus landete auf dem Boden und faltete die Flügel zusammen, hüpfte aber weiter herum. »Und jetzt, Max? Was soll ich jetzt tun? Sag schon, Max! Soll ich noch mal Feuer spucken? Komm, sag!«
Max atmete tief ein und sah sich in der Hütte um.
»Hm, also, vielleicht könntest du ja hier ein bisschen Feuer spucken, Adolphus«, sagte er und zeigte auf die Feuerstelle, wo Adrian und Jakob schon Äste und Zweige aufgeschichtet hatten. »Ich fessele jetzt Adrian, nur für den Fall, dass er zu sich kommen sollte. Aber ich glaube, wir alle könnten jetzt ein bisschen Wärme gebrauchen. Und außerdem knurrt mir der Magen. Keine Ahnung, wie es euch geht, aber mich macht Angst hungrig.«
»Kein Problem!«, sagte Adolphus und ließ einen derart langen Flammenstrahl auf die kleine Feuerstelle los, dass die Flammen bis hoch hinauf in den Rauchabzug leckten. Die Zweige glühten gleich rot und knisterten lustig. Währenddessen schnürte Max Adrian wie ein Brathähnchen zusammen und Grimm schnüffelte in Adrians und Jakobs Satteltaschen nach Essen und Trinken.
Im Handumdrehen saßen der Prinz und seine Retter am Feuer, tranken heißen, gewürzten Apfelsaft und aßen Brot und Käse. Der Prinz war viel freundlicher als am Anfang. Zwar konnte er kein Wort von dem verstehen, was Grimm und Adolphus sagten, doch Max übersetzte, und der Prinz bedankte sich feierlich bei jedem von ihnen.
»Ihr könnt mich Carl nennen, wenn ihr wollt«, sagte er vornehm. »Ihr habt mich ja schließlich gerettet.«
»Also, genau genommen haben wir dich wohl erst gerettet, wenn du wieder in der Burg bist«, sagte Max – und plötzlich überlief es ihn eiskalt. Olivia! Olivia war immer noch in der Burg, immer noch in Sir Richards Zimmer eingesperrt und womöglich in diesem Augenblick Morgana le Fay ausgeliefert! Wo hatte er nur seinen Kopf gehabt?! Dass er Adrian k.o. geschlagen hatte, hatte ihn derart benebelt, dass er Olivia ganz vergessen hatte! Gar nicht zu reden von Sir Richard und Lady Morgana, die bald zur Hütte kommen würden! Was war er nur für ein Idiot!
»Adolphus!«, rief er. »Wir müssen eine Botschaft zur Burg schicken. Jemand muss den Prinzen holen kommen. Am besten Merlin. Und vor allem müssen wir Olivia befreien. Du musst die Botschaft überbringen. Du bist der Einzige, der schnell genug ist!«
»Oh ja! Okay! Auf zur Burg! Aber, äh, wohin genau da?«, sagte Adolphus verwirrt.
Max stöhnte. Vor einer Minute war er sich noch wie ein Held vorgekommen. Jetzt brach die ganze tollkühne Rettungsaktion in sich zusammen. Wohin sollte er Adolphus schicken, wo der sich doch wahrscheinlich nicht einmal den Weg würde merken können? Und wie sollte sich der junge Drache jemandem verständlich machen? Und was sollte er, Max, tun, wenn Sir Richard und Lady Morgana in der Zwischenzeit hier auftauchen würden? Sollte er versuchen, den Prinzen fortzuschaffen?
»Äh, Eure Hoheit? Glaubst du, du kannst laufen?«
»Was? Oh nein. Nein, ausgeschlossen«, sagte Carl sorglos. »Meine Beine fühlen sich noch ganz taub an.«
»Ah«, sagte Max mit schwerem Herzen. Daraus würde also nichts. Er musste den Tatsachen ins Auge sehen: Sie würden noch hier sein, wenn Sir Richard und diese alte Hexe einträfen. Doch Olivia brauchte ebenso dringend Hilfe wie der Prinz. Plötzlich hatte Max wieder die kleinlaute, angsterfüllte Stimme im Ohr, mit der sie gesprochen hatte, als sie aufgebrochen waren. Er traf eine Entscheidung.
»Grimm, du gehst mit Adolphus. Ihr beide zusammen, das macht einen Kopf und ein Paar Flügel. Das sollte reichen, um euch bis in Merlins Zimmer zu bringen. Wenn er nicht da ist, seht zu, dass ihr Papa findet. Merlin wird euch wahrscheinlich verstehen, aber Papa wird eine Nachricht brauchen. Wartet, ich schreibe eine und binde sie an Adolphus’ Bein.«
In einer von Adrians Satteltaschen fand Max ein Stückchen Pergament. Mithilfe eines verrußten Zweigs kritzelte er eine Nachricht darauf: Olivia – Hogsbottoms Zimmer. Beeil dich!
»Ich hoffe, man kann es noch lesen, wenn ihr ankommt«, sagte er, die Stirn in Falten. Dann rollte er das Pergament zusammen und knotete es an Adolphus’ Bein. Der Drache gab sich redlich Mühe, stillzuhalten. »Grimm? Bist du bereit?«
Die schwarze Ratte stupste ihn liebevoll an. »Mach dir keine Sorgen. Wir finden den Weg und wir finden Merlin. Sosehr ich deinen lieben Vater auch schätze, ich glaube kaum, dass er es schaffen würde, dieser Fay-Hexe länger als zehn Sekunden lang standzuhalten. Du bleibst bei Carl, und wenn sie vor uns hier ankommen, dann, also – spuck sie für mich an, ja, Max?«
Max lachte nervös und Grimm grinste. »So ist es richtig! Komm, Adolphus! Auf zur Burg, so schnell uns deine Flügel tragen!«
Er hüpfte auf Adolphus’ Rücken und krallte sich fest. Wie eine Rakete schoss der Drache in die Luft, ein blaugrünes Brausen in der Abendsonne, das einen verhallenden Schrei hinter sich herzog: »Doch nicht soooo schnelllllll!«
Max lächelte und wandte sich wieder dem Feuer zu. Die Arme um die Knie gelegt, blieb er dort sitzen und fragte sich, wie viele Sekunden lang er es schaffen würde, gegen diese Fay-Hexe anzukommen, wenn er müsste.