Der Gaga-Zauber
Olivia hatte Hunger, Langeweile und bloß ein kleines bisschen Angst. Das war keine gute Mischung. Es kam ihr vor, als säße sie seit Stunden in Sir Richards Zimmer fest. Bestimmt war die Mittagszeit vorbei. Wahrscheinlich war es schon lange Zeit für Kuchen.
Sie hatte aus dem Fenster gebrüllt und gegen die Tür gehämmert. Aber das Fenster lag zu hoch und draußen waren der Lärm und die Musik zu laut. Zwar hatten sie ein paar Leute am Fenster bemerkt, doch offensichtlich hatten sie geglaubt, Olivia würde der Menge zuwinken. Also hatten sie fröhlich zurückgewinkt. Und die Tür war dick und aus Eiche. Wenn Olivia mit den Fäusten oder sogar einem Stuhlbein auf sie einschlug, war nicht mehr als ein schwaches, dumpfes Pochen zu hören, das keiner bemerkte.
Olivia seufzte und fragte sich zum hundertsten Mal, was wohl gerade da draußen geschah. Wieso musste ausgerechnet sie hier festsitzen, wenn alle anderen ein Abenteuer erlebten? Wenn doch wenigstens Lady Morgana käme, um sich um sie zu kümmern, was immer das auch heißen mochte! Oh, warum konnte nicht sie der Frosch sein und Max der, der hier warten musste! Wo steckten bloß die anderen? Was taten sie wohl gerade?
Auf einmal hörte sie draußen auf dem Gang Schritte. Statt weiter mit dem Fuß aufzustampfen, wurde sie mucksmäuschenstill und lauschte. Wollte da jemand zu ihr? War es Sir Richard oder, schlimmer, Morgana? Es war sinnlos, sich zu verstecken. Sie wussten, dass sie hier war. Dennoch, Olivia wollte nicht einfach mitten im Zimmer herumstehen. Sie verkroch sich in der engen überwölbten Nische und drückte sich gegen die Wand. Vor der Tür machten die Schritte Halt. Ein Schlüssel kratzte im Schloss. Olivia hielt den Atem an. Die Tür ging auf und jemand kam herein.
»Olivia?«, rief eine unsichere Stimme am anderen Ende des Raums. Olivia seufzte erleichtert. Es war Sir Richard. Es gab Menschen, die sie lieber gesehen hätte, aber für Adrians Vater sprach, dass er nicht Lady Morgana war. Sie trat aus der Nische und Sir Richard machte einen Satz.
»Oh – ah! Da bist du … Äh, ich komme, um dich freizulassen.«
»Mich freilassen?« Olivia war überrascht. »Aber ich dachte … Lady Morgana …«
»Äh, also, nun ja. Sie hat gewisse Pläne – aber, also, sagen wir, dass ich persönlich nicht sonderlich scharf auf diese Pläne bin. Also dachte ich mir, ich komme auf dem Weg nach draußen noch einmal hier vorbei und, äh, vergesse, die Tür abzuschließen.«
Sir Richard schien ganz zufrieden mit sich zu sein. Es brauchte nur eine kleine Notlüge, damit es in seinem Zimmer nicht zu unschönen Szenen käme und er dennoch seine guten Beziehungen zu Lady Morgana nicht gefährdete.
»Großartig!«, rief Olivia. »Danke. Kann ich dann gehen?«
»Oh, also, äh – nicht so schnell, junge Lady«, beeilte sich Sir Richard. »Da wäre ja noch das kleine Problem, dass du all unsere Pläne kennst … Ich denke, bevor du zu Merlin rennst und ihm alles brühwarm erzählst, sollte ich dir einen Gaga-Zauber auferlegen, was meinst du?«
»Einen Gaga-Zauber?«, fragte Olivia. »Was ist das?«
»Ein hübscher kleiner Trick, den ich in der Knappen-Schule gelernt habe«, sagte Sir Richard stolz. »Ehrlich gesagt, war ich in Magie nie besonders gut. Aber diesen Zauber habe ich mit den Jahren wahrlich vervollkommnet. Hat mir gute Dienste geleistet, als es darum ging, dass Leute meinem Vater erzählen wollten, wie … also, ein paar Sachen sollte er wirklich nicht erfahren.«
Beim Gedanken an die Streiche seiner Jugend verklärte sich Sir Richards Blick. Doch dann schüttelte er die Erinnerungen ab. Egal – es war Zeit, dass Olivia verzaubert wurde.
Sir Richard holte ein kleines Säckchen hervor und schüttete ein paar Körner eines violetten Pulvers in seine Hand. Dann murmelte er etwas vor sich hin und streute das Pulver über Olivia. Einen Augenblick lang kitzelte es in ihren Ohren und auf ihrer Zunge, doch weiter geschah nichts.
»Ist das alles?«, fragte sie unbeeindruckt.
»In der Tat, meine Liebe«, sagte Sir Richard aufgeräumt. »Plappere nur erst los, dann wirst du diesen hübschen kleinen Zauber schon noch kennenlernen.«
Olivia glaubte ihm kein Wort. Aber da er sie freilassen wollte, schien es ihr das Beste, ihn bei Laune zu halten.
»Okay«, sagte sie. »Ich spüre, wie er wirkt. Kann ich jetzt gehen?«
»Jaja«, sagte Sir Richard. »Lauf nur, meine Teure. Wie es aussieht, ist dein Drache ja auch schon getürmt. Durchs Fenster, richtig? Flattert vermutlich gerade im Burghof herum. Besser, du gehst ihn suchen. Ich muss jetzt sowieso aufbrechen. Ich habe einen langen Ritt vor mir. In den Wald. Mit Mylady.« Er fasste sich an die Nase und zwinkerte Olivia zu.
Er glaubt wirklich, dass der Zauber wirkt, dachte Olivia. Er würde sein blaues Wunder erleben, wenn sie jetzt gleich zu Merlin rannte und ihm alles erzählte. Sie strahlte Sir Richard an, stahl sich aus der Tür und spazierte so unschuldig wie nur möglich über den Gang.
Merlin saß in seinem großen Eichenstuhl, das Kinn nachdenklich in die Hand gestützt. Er hatte alles versucht, um den Prinzen ausfindig zu machen, aber nichts hatte funktioniert. Der Junge war wie weggezaubert. Doch Merlin war sich sicher, dass der Schutzbann noch hielt. Wenn er seinen Geist aussandte, konnte er spüren, wie der Bann die Burgmauern umhüllte. Seufzend prüfte er ihn ein weiteres Mal. Diesmal tastete er die Mauern in Gedanken Schritt für Schritt ab. Nicht einmal ein haarfeiner Bruch würde ihm so entgehen …
Da! Genau da! Er hatte etwas gefunden. Er spürte eine winzige Unebenheit und wusste sofort: An dieser Stelle war der Bann durchbrochen und nachher wieder geschickt zusammengeflickt worden, so als wäre nichts gewesen.
Feuerstrahl und Donnergrollen! Was war nur mit ihm los, dass er das nicht vorher bemerkt hatte? Zu so etwas war nur ein einziger Mensch fähig – außer ihm selbst. Tatsächlich war er sogar ein bisschen überrascht, dass sie überhaupt dazu fähig war. Aber es war ihr gelungen, zweifellos. Merlin musste sofort zum König. Sie würden ihre Suche ausweiten müssen, über die Burgmauern hinaus. Kaum hatte er sich erhoben, wurde zaghaft an die Tür geklopft.
»Herein!«, rief er, während er sich das Schwert umschnallte und schon nach seinen Reitstiefeln Ausschau hielt.
Ein schmales, dunkelhaariges Mädchen in Knappenkleidung trat in den Raum. Sie kam ihm bekannt vor. Aber woher? Er zog die Augenbrauen hoch.
»Olivia Pendragon, Sir.« Sie machte einen Knicks.
»Ah ja, natürlich! Entschuldige, dass ich dich nicht gleich erkannt habe. Was kann ich für dich tun?«
»Also, es geht um die Möhre, Sir«, sagte Olivia, hielt inne und guckte verwirrt.
»Die Möhre?«, fragte Merlin sanft.
»Ja!«, sagte Olivia und schüttelte dazu heftig den Kopf. »Sie müssen wissen, dass die Möhre nicht mit der Pastinake zu verwechseln ist.«
Sie holte tief Luft und fing von vorne an. »Es ist wirklich wichtig! Es tut mir leid, aber ich glaube, ich habe ein Vanilletörtchen im Ohr. Deshalb fällt es mir schwer, Kuchen zu backen. Oh!!«
Am liebsten hätte sie vor Wut gebrüllt und mit dem Fuß aufgestampft. »Ihr müsst mir helfen! Es ist dringend! Die Möhre wird gleich gekocht und der Salat und die Bohnen sind in die Küche gegangen – und, oh, verdammter Mist!« Sie brach ab und wäre vor lauter Wut beinahe in Tränen ausgebrochen, hätte Merlin sich nicht zu ihr hinabgebeugt und ihre Hand genommen.