Ein Drache eilt zu Hilfe
Adolphus, der Schoßdrache, schnüffelte am Burgtor herum. Dass Max und Olivia in Gefahr schwebten, wusste er nicht. Er suchte nach Kellerasseln, die meist im klammen Halbdunkel unter dem schweren Holztor herumkrochen. Adolphus fand Kellerasseln faszinierend. Und wenn er genug davon hatte, ihnen beim Krabbeln zuzusehen, fand er sie auch ziemlich lecker.
Adolphus schlängelte seinen schuppigen blaugrünen Körper in die dunkelste Ecke, und als er ein paar Asseln über den Boden flitzen sah, wedelte er glücklich mit seinem gezackten Schwanz. Er wollte gerade ein bisschen Feuer spucken, damit die Asseln noch ein wenig schneller liefen, da hörte er ein komisches Geräusch.
Adolphus sah auf. Da war ein kleines, rotes Etwas am anderen Ende der Halle. Genau genommen waren es sogar zwei kleine Etwasse, eins rot und eins lila. Und beide rochen nach muffigen Algen. Adolphus erhob sich in die Luft und segelte durch die Halle, um sich das näher anzugucken.
Mit heillos ineinander verwickelten Flügeln und Beinen stürzte er genau vor den beiden seltsam bunten Fröschen ab. Voller Entsetzen starrten sie ihn an. Adolphus beschnüffelte den roten. Ob er lecker schmecken würde? Doch noch bevor Adolphus den Rachen aufsperren konnte, schrie ihn der zweite Frosch an.
»Adolphus! Hör sofort auf damit! Böser Drache! Du wirst diesen Frosch nicht fressen!«
Adolphus hielt inne. Er war ein wenig konfus. Die Stimme kam aus dem lila Frosch – doch sie klang wie die Stimme seines Frauchens Olivia Pendragon. Er sah auf den Frosch hinab.
»Äh, was? Bist du Olivia?«
»Ja, ja, bin ich!«, sagte der lila Frosch.
Olivia war unglaublich erleichtert. Sie war fest davon ausgegangen, dass Grimm fast als Drachenmahlzeit geendet hätte.
Aber wie es aussah, konnte Adolphus Frösche verstehen und hatte sie sogar erkannt. Das war nicht weniger als ein Wunder, denn Adolphus war nicht gerade ein Genie. Normalerweise fraß er, bevor er Fragen stellte.
»Adolphus«, sagte sie. »Eine von Max’ dämlichen Zaubereien hat uns in Frösche verwandelt. Und jetzt ist Max in die Küche verschwunden, um Pfefferkörner zu besorgen. Er ist schon eine Ewigkeit weg, und wir haben Angst, dass Miss Mudfoot ihn in die Suppe geworfen hat.«
»Wir sind so gut wie sicher, dass sie ihn in die Suppe geworfen hat«, verbesserte Grimm. »Und wahrscheinlich sind wir als Nächstes dran, wenn wir noch länger hier herumstehen.«
»Oh nein! Oh Gott! Max in der Suppe! Wie kann ich helfen?«, rief Adolphus besorgt, schlug aufgeregt mit den Flügeln und trat von einem Bein aufs andere.
»Fürs Erste könntest du uns nicht zertrampeln«, bemerkte Grimm und rettete sich mit einem eleganten Hüpfer vor Adolphus’ Klauen.
»Wir sind auf dem Weg in die Küche«, sagte Olivia. »Max muss da irgendwo stecken. Wahrscheinlich müssen wir ihn retten. Komm!«
Die drei durchquerten die Halle und schlichen durch den Gang zur Küche. An der Tür blieben sie stehen und schauten vorsichtig hinein. Miss Mudfoot rührte im großen Kessel auf dem Herd und warf immer mal wieder eine Handvoll von etwas verdächtig Grünem und Stinkendem hinein. Olivia nahm den Raum in Augenschein. Dann wandte sie sich den anderen zu.
»Oben im Gewürzschrank ist eine Schublade offen. Ich wette, das ist das Pfefferfach. Max muss es irgendwie da hoch geschafft und die Schublade geöffnet haben. Aber ich kann ihn nirgendwo entdecken.«
Grimm hüpfte zum Schrank und spähte zur Schublade hinauf. Dann sah er sich auf dem Fußboden um und entdeckte eine verirrte Haselnuss, die unter einen Stuhl gerollt war. Er packte sie, schätzte präzise die Entfernung ab und schleuderte die Nuss Richtung Schrank. Mit einem dumpfen Knall traf sie die Schublade.
Sie erstarrten, aber offenbar hatte Miss Mudfoot nichts gehört. Wenig später sahen sie zwei orangefarbene Füße auf dem Schubladenrand zum Vorschein kommen und hörten eine Stimme.
»Olivia! Grimm! Ich sitze in der Falle! Das Fach ist zu hoch, um rauszuklettern, und zu eng, um zu springen. Ich hab es versucht – aber ich stoße mir bloß den Kopf. Tut etwas, schnell – bevor Miss Mudfoot mich findet und Gehacktes aus mir macht!«
Olivia und die anderen zogen sich hinter die Tür zurück, um zu beraten.
»Das ist ein Notfall«, sagte Olivia. »Wir müssen ihn da rausholen, bevor sie ihn findet.«
»Und wir müssen an die Pfefferkörner kommen, sonst bleiben wir für immer Frösche«, fügte Grimm hinzu. »Was mich angeht, hat das unbedingt Vorrang. Sosehr ich den guten alten Max auch schätze.«
»Du musst das machen, Adolphus«, sagte Olivia bestimmt. »Du musst zur Schublade fliegen, Max mit einer Klaue packen und ihn dann zurück in den Keller bringen.«
»Die Pfefferkörner«, korrigierte Grimm. »Du musst mit deinen Klauen die Pfefferkörner packen. Max auch, sollte sich das irgendwie einrichten lassen. Aber nur Max wiederzuhaben, ohne die alles entscheidende Zutat, nützt uns nichts.«
»Beides«, sagte Olivia. »Die Pfefferkörner und Max – und sie müssen in den Keller gebracht werden. Hast du das verstanden, Adolphus?«
»Richtig. Ja. Okay«, sagte Adolphus schnell. »Zur Schublade fliegen, die Pfefferkörner fressen und dann Max in den Kessel werfen.«
»Nein!«, sagte Olivia. »Konzentrier dich, Adolphus! Max aus der Schublade in den Keller und die Pfefferkörner aus der Schublade in den Kessel.«
»Oh ja, richtig!«, sagte Adolphus entschuldigend. »Also, Max zu den Pfefferkörnern und die Schublade muss in den Keller.«
»Adolphus!«, stöhnte Olivia. »Max – und – die Pfefferkörner – in – den – Keller!«
»Es wird in einer Katastrophe enden«, sagte Grimm und schlug sich die Schwimmfüße vor das Gesicht.
Adolphus schlängelte sich zurück in die Küche und hielt nach Miss Mudfoot Ausschau. Die Köchin schien vollends damit beschäftigt, etwas verdächtig Braunes und Klebriges in die Suppe zu rühren. Mit ein paar Flügelschlägen flog Adolphus zum Schrank hinauf und schielte in die offene Schublade. Drinnen hockte ein grellorangefarbener Frosch zwischen einigen Pfeffersäckchen.
Adolphus dachte scharf nach. Pfeffer – er brauchte Pfeffer, das hatte Olivia gesagt. Und dann hatte sie noch etwas von Max gesagt. Aber in der Schublade war kein Max – bloß dieser seltsam orangefarbene Frosch. Adolphus kratzte sich am Ohr und überlegte. Vielleicht wollte Max, dass Adolphus ihm den Pfeffer brachte? So musste es sein. Genau! Jetzt wusste er es wieder! Max war im Keller.
Mit einer Klaue packte Adolphus ein Pfeffersäckchen, dann begutachtete er noch einmal den Frosch. Man wusste schließlich nie, vielleicht war er ja lecker. Aber er musste Max den Pfeffer bringen. Ob er den Frosch trotzdem mitnehmen sollte, um ihn später zu fressen? Vorsichtig nahm er den Frosch in den Mund, achtete nicht auf sein Quaken und breitete seine Flügel für den Abflug aus.
Doch Miss Mudfoot war mit ihrer Suppe fertig und auf dem Weg zu ihrer morgendlichen Nascherei – eingelegte Schlangenfüße aus dem Gewürzschrank.
»Oh nein!« Olivia schnappte nach Luft. »Ich kann gar nicht hinsehen!«
Grimm bedeckte sein Gesicht mit einem Schwimmfuß. »Wir sind erledigt«, sagte er. »Erledigt!«
Miss Mudfoot warf einen einzigen Blick auf Adolphus, und bevor jemand »eingelegte Schlangenfüße« hätte sagen können, hatte sie ihn mit ihren fleischigen Fingern im Nacken gepackt.
»Hab ich dich, du stinkende, verzwergte Ausgeburt eines Wurms«, grollte sie. »In meiner Küche! Mit meinen Pfefferkörnern! Und was hast du da in deinem nutzlosen Maul?«
Oje, dachte Adolphus. In den Fängen der schrecklichen Miss Mudfoot! So würde er Max die Pfefferkörner nicht bringen können. Am besten lenkte er sie mit dem Frosch ab. Adolphus warf den Kopf hin und her und wedelte mit dem Frosch – genau vor Miss Mudfoots Augen. Der Frosch quiekte und strampelte verzweifelt mit den Hinterbeinen.