In den späten achtziger Jahren zeigte sich, daß die Wohlfahrtsleistungen mit der Inflation nicht Schritt gehalten hatten, und die Zahl der Arbeitslosen war deutlich gesunken. Vielleicht bestand da ein Zusammenhang. Auch die Inflation selbst hatte abgenommen. Der Autogigant General Motors hatte seinen SchadensersatzProzeß gegen die Gewerkschaften wegen Streikfolgen gewonnen und ließ sich aus der Gewerkschaftskasse auszahlen; in Zukunft dürfte es wohl weniger Streiks geben. Die Kriegswaffen waren in das Reich der Science Fiction gerückt, der Durchschnittsbürger konnte sich kaum noch etwas unter alldem vorstellen. Die Sowjetunion aber hatte ihr Raumfahrtprogramm ständig weiterbetrieben, bis ihr praktisch der ganze Himmel gehörte, angefangen bei der Erdumlaufbahn bis weit hinter dem Mond.
Die WagenburgLeute trafen sich weiter. Sie waren älter und finanzkräftiger geworden. Vor vier Jahren hatten sie ein Stück Land außerhalb Bellingham erworben, einer verfallenden Stadt an der Pazifikküste nördlich von Seattle, nahe der kanadischen Grenze. Dort hatten vor langer Zeit, bevor das Fahrwasser versandet und die Wirtschaft nach Süden gezogen war, ein Hafen und eine Marinewerft bestanden. Die Stadt war als Angriffsziel ebenso wahrscheinlich oder unwahrscheinlich wie jeder andere Ort.
Sie alle verdienten gutes Geld, und ihre Berufstätigkeit machte es erforderlich, daß sie weit im Süden, in Los Angeles, blieben. Im Laufe der Jahre hatte der eine oder andere in einer Kleinstadt Wohlstand oder Frieden oder beides gefunden, andere ersetzten die Aussteiger, und dieWagenburg bestand weiterhin, eine Gruppe alternder überlebenswilliger Mittelschichtangehöriger, die nicht bereit waren, die Trennung von Los Angeles und ihrem nicht unbeträchtlichen Einkommen zu vollziehen.
Stets hatte sich die Gruppe regelmäßig donnerstags nach der Abendessenszeit zusammengefunden. Heute war Montag, es war Zeit zum Abendessen, und Isadore, der früh Feierabend gemacht hatte, bekam Hunger.
Jetzt also stand das Ende der Zivilisation bevor. In der Gruppe herrschte eine sonderbare Stimmung. Heute hörte man kein Gelächter, keine Klagen über die Trottel im Kongreß…
Heute abend war es allen ernst.
»Mir paßt der Zeitpunkt überhaupt nicht«, sagte George. »Corliss steht kurz vor dem Schulabschluß, und den anderen Kindern wird es nicht gefallen, so unvermittelt aus dem Schuljahr rausgerissen zu werden. Mir selbst kommt es so quer wie nur möglich.«
Zustimmung ertönte um ihn herum. »Ich kann nicht weg«, sagte Isadore.
Der Lärm ebbte ab. Jack McCauley sagte: »Wieso nicht?«
»Ich kann meine Arbeit nicht aufgeben und krieg auch keinen Urlaub. Wie George schon gesagt hat, der Zeitpunkt ist ungünstig. In den Reisebüros beginnt die Sommersaison, da gibt es viel zu tun.«
Jack knurrte mißbilligend. George fragte: »Und was ist mit Krankheitsurlaub?«
»Hmm… vielleicht sitzen da vierzehn Tage drin.«
»Dann warte doch bis zum, sagen wir 10. Juni, Jack.« George fuhr fort, bevor der automatische Protest kam. »Bestimmt vergessen wir was. Is soll für uns die Stellung halten. Du nimmst dir also deine zwei Wochen Krankheitsurlaub, unmittelbar bevor die Außerirdischen die Erde erreichen und fährst rauf. Nach vierzehn Tagen weißt du garantiert, ob du in die Stadt zurück willst oder nicht.«
»Dann fehlt uns immer noch ein Paar starker Arme«, meldete sich Jack brummig.
Isadore fand den Gedanken gut. »Ich frage Clara, ob sie die Kinder hinbringen will. Sie sollten so lange wie möglich in der Schule bleiben.«
»Nun, es läßt sich nicht ändern«, sagte Jack. »Aber wir anderen gehen, einverstanden?« Er sprach weiter, bevor jemand Einwände erheben konnte. »Bill und Gwen sind bereits oben in der Wagenburg. Das zweite Zisternensystem ist betriebsfertig, und Bill hat die Decke über dem bombensicheren Unterstand fertig gegossen. Er sagt, daß der Brunnen noch gesäubert werden muß, aber das können wir selber machen, wenn wir da sind.« Er schob die Lippen in einer allen vertrauten Bewegung vor. »Eins noch, Is. Du fährst eine Woche, bevor die Außerirdischen landen, los. Wenn du länger wartest, kann es passieren, daß du es nicht mehr schaffst. Wenn die Menschen wirklich an das Raumschiff glauben, ist überhaupt nicht abzusehen, was sie alles anstellen werden.«
»Immer vorausgesetzt, die Sowjets lassen uns soviel Zeit«, sagte George.
Jack runzelte die Stirn. »Immer angenommen, daß es sich tatsächlich um ein Raumschiff von Außerirdischen handelt und nicht um was, das uns die Russen vor die Nase gesetzt haben.«
Alle zuckten die Achseln. »Darüber wissen wir nichts«, sagte Isadore. »Aber vermutlich wüßte der Präsident was.«
»Und du meinst, das würde er uns sagen?« sagte Jack. »Is, bist du sicher, daß du warten willst?«
»Ich muß warten.« Er hat recht, dachte Isadore. Wer, zum Kuckuck, weiß, was da gespielt wird. Außerirdische, Russen – ein Atomkrieg kann einem den ganzen Tag verderben. »Ich denke, daß Clara früh hinfahren will«, sagte er, »aber ich muß sie noch fragen.«
Die anderen nickten verständnisvoll.
Bei der Gründung der Wagenburg war festgelegt worden, daß jeder Erwachsene eine Stimme hatte, aber alle Stimmen einer Familie von einem einzelnen abzugeben waren. Der dahinterstehende Gedanke war einfach: wenn sich eine Familie nicht einmal darauf einigen konnte, wer sie vertreten sollte – worauf dann?
Zuerst hatte es Schwierigkeiten gegeben, weil Isadore fand, Clara könne an seiner Stelle die Stimme abgeben, aber sie kam mit Jack nicht gut aus, vielleicht war es auch umgekehrt. Jedenfalls hatte es zuviel Streit gegeben. Nach den ersten Jahren hatten sich die Dinge eingespielt, und nur die Männer stimmten ab, doch häufig besprach sich Isadore mit Clara, bevor er sich entschied.
»Wer geht noch?« wollte Jack wissen.
Die unvermeidliche Frage wirkte auf die Anwesenden unterschiedlich. Jack war ohnehin bereits gereizt, George sah betroffen drein und zeigte dann ein schlechtes Gewissen. »Nun… wir natürlich«, sagte er. »Unsere Frauen und Kinder.«
»Selbstverständlich. Wer noch? Wen brauchen wir, wen wollen wir dabeihaben? John Fox?«
Isadore lachte. »Natürlich wollen wir Fox. Er versteht mehr von der Sache als wir alle. Deswegen kommt er ja auch nicht. Ich hab mit ihm gesprochen. Er wird irgendwo im Tal des Todes kampieren, und für ihn ist das genau das Richtige. Mich aber hat er nicht eingeladen.«
»Und was, wenn sich Martie zeigt?«
»Ach je.«
Immerhin hatte Martin Carnell der Gruppe so lange angehört, daß er sich am Kauf des Grundstücks und des Hauses in Bellingham beteiligt hatte. Dann war er ausgeschieden, vielleicht hatte er finanzielle Schwierigkeiten bekommen und war später weiter nordwärts gezogen, ins Antilopental.
»Du verstehst mich falsch, George. Ich will nur darauf hinweisen, daß er einige gesetzlich abgesicherte Rechte hat. Was, wenn er plötzlich vor der Tür steht – bevor oder nachdem die Außerirdischen da sind?«
»Wir haben aus dem Anwesen eine Festung gemacht, seit er weg ist. Das hat gekostet.« Isadore grinste die anderen breit an. »Was ihm gehört, entspricht etwa der Hälfte dessen, was er eigentlich hätte reinstecken müssen. Die Sache ist schwierig.«
»Ja. Nun, ich treff ihn manchmal, und er ist immer noch allein. Er würde also keinen mitbringen.«