Captain Jeanette Crichton schaltete herunter, um die schroffe Steigung zu bewältigen. Das Gelände war trügerisch. Vom Strand aus hatte es ausgesehen, als schwängen sich die Bergflanken sacht zum Wasser hinab, wenn man aber hinauffuhr, wurde es entsetzlich steil. Erst dann merkte man, wie hoch die Zwillingsvulkane wirklich waren. Mauna Kea erhob sich 4202 Meter über den Meeresspiegel – und tauchte über 6000 Meter tief zum Meeresboden hinab. Damit war sie höher als der Mount Everest.
»An der nächsten richtigen Straße links«, sagte Richard Owen. »Stört es Sie, wenn ich ein bißchen döse? Ich habe kaum geschlafen.«
»Mir recht«, sagte sie. Sie fuhr weiter.
Nicht sehr schmeichelhaft, überlegte sie. Bändelt in Kona mit mir an, läßt mich hier rauffahren und schläft ein. Wie romantisch…
Sie fuhr sich durch das schulterlange, dunkelbraune, ins Rötliche spielende Haar. Naß vom morgendlichen Schwimmen, wie es war, konnte es unmöglich besonders verführerisch sein. Auch sehr braun war sie nicht. Manchmal verliefen ihre Sommersprossen so ineinander, daß es aussah, als sei sie braun, aber dafür war es noch zu früh im Jahr. Nasse Haare, blasse Haut. Nicht gerade das, was sich die Männer unter einer typischen jungen Kalifornierin vorstellten.
Ihre Figur allerdings war in Ordnung, wenn auch etwas athletisch. Das Heer verlangte praktisch von allen Offizieren, daß sie täglich gut sechs Kilometer liefen, und sie tat das auch, obwohl man ihr die Auflage auf Wunsch vermutlich erlassen hätte. Der wadenlange Rock und das TShirt brachten ihre Figur gut zur Geltung. Aber das konnte nicht der Grund dafür sein, daß dieser Astronom sich ihr genähert hatte, ebensowenig wie sie von seiner Erscheinung sonderlich beeindruckt gewesen war. Dennoch hatte es anfänglich zwischen ihnen ein wenig geknistert, das aber war jetzt fast vorbei.
Er war die ganze Nacht auf. Und er wird es heute nacht wieder sein. Laß ihn schlafen, das hilft ihm ein bißchen. Was weiß ich denn, wie mir zumute wäre, wenn ich nach dem Stundenplan eines Vampirs leben müßte.
Jetzt lösten Weideland und Lavafelder einander ab. In unregelmäßigen Abständen erhoben sich schlichte Pyramiden aus Lavagestein, sechzig Zentimeter Grundlinie, jeweils drei oder vier Steine unterschiedlicher Größe aufeinandergeschichtet. Man hatte ihr gesagt, es handele sich um religiöse Opfer der alten Inselbewohner. Keinesfalls aber konnten diese Pyramiden sehr alt sein. Mauna Loa brach ziemlich häufig aus, und über das Feld, an dem sie gerade vorüberkamen, waren im Verlauf des 20. Jahrhunderts sicherlich mehrfach Lavaströme hinweggegangen.
An der Gabelung bog sie links ab, und die Straße stieg noch steiler an als zuvor. Der gemietete TriumphSportwagen quälte sich aufwärts. Hier, auf der Seite von Mauna Kea, gab es kaum neue Lavafelder. ›Sie‹ galt als so gut wie erloschen. Es ging kilometerlang durch Weideland, das König Kamehameha einem britischen Seemann geschenkt hatte, mit dem er sich angefreundet hatte.
Richard Owen erwachte gerade in dem Augenblick, als sie die ›behelfsmäßige‹, aus Holz errichtete astronomische Station erreichten. »Hier bleiben wir«, sagte er. »Ich lade Sie zum Mittagessen ein.«
Besonders aufwendig war die Anlage nicht. Lange niedrige Baracken, umgeben von Lava und Schlamm und einige Bäumchen, die auf dem Lavafeld zu überleben versuchten. Sie stellte den Wagen neben mehreren Jeeps ab. »Von mir aus können wir weiterfahren«, sagte sie, »ich muß nicht unbedingt etwas essen.«
»Es ist Vorschrift. Akklimatisierung. Der Gipfel liegt ziemlich genau 4200 Meter hoch. Hier auf 3000 Meter ist die Luft schon ziemlich dünn. Man tut sich schwer, wenn man nicht daran gewöhnt ist – selbst das Gehen ist nicht leicht.«
Als sie die Holzbaracken erreicht hatten, gab sie ihm im stillen bereits recht.
Am Rande des Vulkans stand ein halbes Dutzend Observatorien. Richard stellte den Jeep vor dem der NASA ab.
»Darf ich auch durch das Teleskop schauen?« fragte sie.
Er lachte nicht. Vielleicht hatte er die Frage schon zu oft beantwortet. »Niemand sieht mehr durch Teleskope. Wir machen nur noch Aufnahmen.« Er ging ihr voraus, durch Korridore mit kahlen Wänden und eine eiserne Treppe hinab in einen mit StahlrohrBüromöbeln eingerichteten Aufenthaltsraum.
Eine Frau etwa in Jeanettes Alter nippte darin mit gerunzelter Stirn an einer Tasse Kaffee.
»Mary Alice«, stellte Owen vor, »Captain Jeanette Crichton. Sie macht für das Heer SatellitenFotoerkundungen und dergleichen. Dr. Mary Alice Mouton. Spezialistin für Asteroiden.«
»Hallo«, sagte Mary Alice mit nach wie vor gerunzelter Stirn.
»Schwierigkeiten?« erkundigte sich Owen.
»Tja.« Sie schien Jeanette überhaupt nicht zu bemerken. »Ich wollte dich bitten, dir mal was anzusehen, Rick.«
»Na klar.«
Dr. Mouton erhob sich und ging Rick Owen voraus. Kopfschüttelnd folgte Jeanette ihnen durch einen weiteren Gang und eine Treppe hinauf, vorbei an einem unaufgeräumt wirkenden Computerraum. Die sind einer so verrückt wie der andere, dachte sie. Aber damit war ja zu rechnen gewesen.
Eigentlich hatte sie nicht recht gewußt, was sie erwartete. Sie war zum erstenmal auf Hawaii. Auf Einladung einer Technikervereinigung hatte sie vor deren Kongreß über Satellitenbeobachtung gesprochen und einige Tage Badeurlaub angehängt, wollte vor allem die Sonne genießen. Da sie niemanden kannte, war es bisher ziemlich langweilig gewesen, und sie hatte erwogen, vor ihrer Rückkehr nach Fort Bragg ihre Schwester Linda und deren Mann Edmund zu besuchen.
Dann hatte sie draußen am Riff Richard Owen kennengelernt. Nach dem Schwimmen hatten sie miteinander gefrühstückt, und er hatte sie zur Besichtigung der Station eingeladen. Aus Andeutungen, die er bei Tisch und auf dem Weg herauf gemacht hatte, glaubte sie schließen zu dürfen, daß er versuchen würde, sich an sie heranzumachen. Sie hatte schon überlegt, wie sie darauf reagieren sollte – einen Schlafsack hatte sie mit.
Und jetzt schien sie mit einemmal Luft für ihn zu sein.
Sie folgte den beiden in einen kleinen, vollgestopften Raum. In einer Ecke stand ein großer Sichtschirm. Dr. Mouton machte sich an den Einstellknöpfen zu schaffen, und mit einemmal blitzte auf dem Monitor ein Sternenfeld auf. Einige weitere Handgriffe und die Sterne blinkten – ein, aus; ein, aus. Dabei schien einer von ihnen hin und her zu springen.
»Ein neuer Asteroid?« wollte Owen wissen.
»Dachte ich zuerst auch«, sagte Dr. Mouton. »Aber sieh mal genau hin und denk gut nach.«
Er betrachtete aufmerksam den Bildschirm. Jeanette trat näher, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Man macht an zwei verschiedenen Abenden Himmelsaufnahmen und vergleicht sie, indem man sie abwechselnd aufblinken läßt. Die Bewegung der Sterne ist so minimal, daß man keinen Unterschied merkt, aber alles, was sich vor dem Hintergrund der ›Fixsterne‹ bewegt, wie beispielsweise ein Planet oder ein Asteroid, befindet sich bei der ›BlinkKomparation ‹ an unterschiedlichen Stellen. Werden nun beide Aufnahmen abwechselnd ein- und ausgeschaltet, wirkt es, als spränge der Himmelskörper, der sich bewegt hat, hin und her. Mit Hilfe des BlinkKomparators hatte Clyde Tombaugh den Pluto entdeckt. Das Verfahren gehörte zum Standardrepertoire der Fotoerkundung, weil man mit seiner Hilfe erkennen konnte, was sich im Zeitraum zwischen zwei Satellitenaufnahmen verändert hatte.
»Worin besteht die Schwierigkeit?« erkundigte sich Owen.
»Es ist zu schnell für den zeitlichen Abstand.«
»Nun, es ist ja ziemlich nah.«
»So nah nun auch wieder nicht«, sagte sie. »Ich hab mir die Aufnahmen geben lassen, die vor ein paar Wochen gemacht wurden. Das Ding bewegt sich so schnell, daß ich mir fast jeden Abend einzeln vornehmen mußte! Es hat eine hyperbolische Umlaufbahn.«
»Das gibt es doch überhaupt nicht!«