Nun gab es kein Halten mehr. Die Nasen auf die Erde gepresst, mit steil aufgerichteten Schwänzen, liefen sie die Straße hinunter, über einen Zebrastreifen und in einen kleinen Park.
Alle waren glücklich, alle außer Henry. Fleck hatte seine Freunde schwanzwedelnd und mit freudigem Bellen begrüßt. Und die anderen vier Hunde waren froh, den kleinen Terrier wiederzusehen. Obwohl das freie Herumstreifen in der Stadt sehr interessant gewesen war, war es doch beruhigend, ein bekanntes menschliches Wesen gefunden zu haben. Vertrauensvoll ließen sie sich zu Henrys Füßen nieder und warteten auf seine Befehle. Nur Li-Chee, der von dem ungewohnten Herumlaufen sehr erschöpft war, schloss die Augen und machte ein kleines Nickerchen.
Henry jedoch war verzweifelt. Er hatte seinen Augen nicht trauen wollen, als die Hunde aus Rent-a-Dog im Park auf ihn zugestürzt waren. Was sollte er jetzt bloß tun? Die Hunde mussten weggelaufen sein, nachdem Pippa den Laden verlassen hatte, was bedeutete, dass sie großen Ärger bekommen würde, aber er hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Genauso wenig konnte er die Hunde wieder zurückbringen. Das Risiko, dass irgendjemand dort wäre und ihm Fleck wieder wegnehmen würde, war zu groß.
»Geht nach Hause«, sagte Henry und versuchte, bestimmt zu klingen. »Nun macht schon, geht nach Hause!« Er wedelte mit den Armen in Richtung Straße.
Die Hunde sahen ihn nur an. Ottos Ohren zuckten, Francine blinzelte. Menschen machten manchmal komische Bemerkungen, man nahm besser keine Notiz davon. Was meinte er mit Zuhause? Ganz sicher nicht den Ort, dem sie gerade entkommen waren. Keiner von ihnen rührte sich.
Und warum sollten sie auch, dachte Henry. Was für ein Zuhause war denn Rent-a-Dog für einen Hund? Aber er musste mit Fleck zum Bahnhof King’s Cross. Der letzte Zug fuhr um halb zehn. Den durfte er auf keinen Fall verpassen. Wenn er sich einfach mit Fleck auf den Weg machte, würden die vier vielleicht von allein zurücklaufen.
Henry setzte Fleck auf den Boden und nahm ihn an die Leine. Es war ein schreckliches Gefühl, die anderen Hunde sich selbst zu überlassen, aber er musste Fleck in Sicherheit bringen, bevor jemand merkte, dass er nicht mehr da war.
Er machte sich auf den Weg zum Parktor. Fleck konnte nun einigermaßen laufen, ab und zu schwankte er noch ein bisschen. Wenige Schritte hinter ihnen folgten ruhig und selbstverständlich Otto, Francine, Honey und Li-Chee.
Ein Mann mit einer Flasche in der Hand torkelte auf sie zu und Ottos Nackenhaare stellten sich auf. Er ließ ein tiefes Grollen hören und der Betrunkene machte schnell kehrt. Otto begleitete Henry und Fleck nicht nur, er bewachte sie auch.
Henry lief seinem Plan folgend durch die Straßen Londons und jedes Mal, wenn er stehen blieb und rief: »Geht nach Hause! Geht zurück!«, sahen die Hunde ihn nur an und warteten darauf, dass er weiterging. Sie benahmen sich vorbildlich, hielten am Zebrastreifen und ließen sich unterwegs auch nicht von fremden Hunden ablenken.
Flecks Schwanz war stolz erhoben, denn er genoss es nicht nur, wieder mit seinem Herrchen vereint zu sein, sondern auch die Gesellschaft seiner Freunde.
Schließlich erreichten sie King’s Cross. Fleck war überwältigt von der Masse an Menschen und Henry nahm ihn auf den Arm, als er sich einen Weg zum Ticketschalter bahnte.
»Bitte geht nach Hause«, sagte er ein letztes Mal zu den vier Hunden, doch die hefteten sich nur enger an seine Fersen, denn die Gerüche und Geräusche auf dem Bahnhof gefielen ihnen überhaupt nicht. Irgendjemand hatte sich übergeben, eine Gruppe von Menschen in lächerlichen Hüten grölte herum und sang alberne Lieder.
Henry war verzweifelt. Er trug Fleck zu der Warteschlange vor dem Fahrkartenschalter und gut erzogen, wie sie waren, reihten sich die vier Hunde ebenfalls in die Schlange ein. Selbst wenn Henry genug Geld gehabt hätte, um auch für die vier Flüchtlinge Fahrkarten zu kaufen, es hätte nichts genutzt. Die Bestimmungen sahen vor, dass jeder Passagier nur einen Hund mit sich führen durfte.
»Bitte?«, fragte der Mann hinter dem Schalter ungeduldig.
»Einmal einfach nach Berwick für mich und meinen Hund«, sagte Henry und legte das Geld auf den Tresen.
Er nahm die beiden Fahrkarten und ging zum Gleis 7. Um diese Zeit fuhren nicht mehr viele Züge. Er ging den fast leeren Bahnsteig entlang und die Hunde folgten ihm vertrauensvoll.
Henry wusste, was er zu tun hatte. Er würde in den Zug steigen und schnell die Tür schließen und dann – da war er sicher – würden die anderen Hunde schon weggehen. Wenn er am nächsten Morgen in Berwick angekommen war, würde er Pippa anrufen, damit sie nach den Hunden suchen konnte. In der Nacht würde ihnen schon nichts Schlimmes zustoßen.
Henry hob Fleck in den Wagen und setzte ihn auf dem Boden ab, dann stieg er ebenfalls ein und drehte sich noch einmal um, um die Tür zu schließen. Die vier Hunde saßen immer noch auf dem Bahnsteig und sahen erwartungsvoll zu ihm hoch, doch er ließ sich von ihren Blicken nicht erweichen.
»Komm, Fleck«, sagte er und ging zu seinem Platz.
»Der Neunuhrdreißigzug nach Berwick und Edinburgh ist nun bereit zur Abfahrt. Bitte einsteigen!«, ertönte eine Lautsprecherstimme.
Türen wurden zugeschlagen. Der Schaffner blies in seine Pfeife und der Zug setzte sich in Bewegung.
Das Telefon läutete um sechs Uhr morgens und Pippa lief in den Flur und griff nach dem Hörer. Das war bestimmt Alison, mit der sie sich treffen wollte, um gemeinsam zur Schule zu gehen. Sie sollten sich alle dort versammeln, um auf den Bus zu warten, der sie in ein Feriencamp im New Forest bringen sollte.
Doch es war nicht Alison.
»Spreche ich mit Pippa?«, sagte eine schwache Stimme.
»Ja. Wer ist denn da?«
»Ich bin’s, Henry.«
»Du meine Güte, bist du etwa schon bei deinen Großeltern?«
»Nein, bin ich nicht.« Henrys Stimme klang angespannt und beunruhigt. »Ich bin immer noch hier in London. Es ist etwas Schreckliches passiert. Die Hunde, die mit Fleck in dem Raum waren, sind ausgebüxt. Sie haben mich und Fleck aufgespürt und wollten nicht mehr weg. Ich war schon im Zug und der sollte auch gleich abfahren, aber die vier saßen immer noch auf dem Bahnsteig und haben so traurig geguckt und gewartet. Sie haben geglaubt, ich nehme sie mit. Ich hab versucht, nicht auf sie zu achten, aber das ging nicht. Also bin ich wieder ausgestiegen und hab die Nacht in einem eiskalten Schuppen auf einer Baustelle verbracht. Es war furchtbar. Die Baustelle wurde von einem Rottweiler bewacht, aber Otto hat es geschafft, dass er uns reingelassen hat. Du musst sofort kommen und die Hunde wieder zurückbringen, Pippa. Du musst!«
In Pippas Kopf drehte sich alles. »Wo bist du denn genau?«
»Ich bin am Mortland Square. Da ist so eine kleine Grünfläche mit einem Kriegerdenkmal. Ich kann hier noch ein wenig bleiben, aber die Leute gucken schon so komisch.«
»In Ordnung. Ich weiß, wo das ist. Bleib einfach da, rühr dich nicht von der Stelle. Und wenn jemand fragt, dann sagst du einfach, du führst die Hunde nur aus und wartest auf die Besitzer.«
Pippa legte den Hörer auf. Kayley schlief noch. Sie hatte auch nicht mitbekommen, als Pippa abends zurückgekommen war. Pippas Rucksack war fertig gepackt. Sie musste nur noch ihre Zahnbürste hineintun und die Sandwichs, die ihre Mutter am Abend vorher für sie geschmiert hatte.
Pippa schlich sich in die Küche und nahm die Sandwichs, dazu ein paar kalte Würstchen und einen halben Laib Brot. Dann lief sie schnell ins Wohnzimmer und setzte sich an den Computer. Sie tippte eine Entschuldigung für ihren Lehrer, in der stand, sie hätte Grippe und könne leider nicht mit auf Klassenfahrt gehen. Sie druckte sie aus und unterschrieb mit dem Namen ihrer Mutter, ihre Unterschrift war leicht zu kopieren.