Statt zu antworten, zeigte Pippa nach draußen und er sah, dass sie genau in die Richtung fuhren, in die sie wollten.
»Todcaster liegt nur dreißig Meilen südlich von Berwick. Du hast doch gesagt, das Wichtigste ist, Fleck zu deinen Großeltern zu bringen. Und genau das machen wir.«
Mit diesen Worten lehnte sich Pippa gegen einen Strohballen und schlief ein.
Es war bereits dunkel, als sie ihr Ziel erreichten. Todcaster ist eine Industriestadt, umgeben von Moorlandschaft. Und als die Kinder aus dem Lkw stolperten, spürten sie bereits den kalten Wind der Nordsee.
Sofort war George bei ihnen.
»Habt ihr was von Elsa gehört?«, fragte er. Pippa verneinte.
»Tante Elsa hält nichts von Handys. Sie hat mal gelesen, dass man davon Ohrenkrebs bekommt.«
George schüttelte den Kopf. »Vernagelt bis zum Gehtnichtmehr, so war sie immer. Egal, wir brauchen eine Hundenummer und ihre wäre perfekt. Am besten kümmere ich mich um einen Platz zum Schlafen für euch beide. Die Hunde können im Lkw bleiben, aber ich denke, ihr hättet es lieber etwas bequemer.«
Er verschwand und kehrte mit einer netten rundlichen Frau zurück, die er als Myra vorstellte.
»Myra hat einen großen Wohnwagen, heute Nacht könnt ihr bei ihr pennen.«
»Ja, ich hab genug Platz für euch zwei Würmchen«, sagte Myra. »Hab in dem Wagen vier Kinder großgezogen.«
Es stellte sich heraus, dass Myra eine Wahrsagerin war.
Jedes Mal, wenn der Zirkus haltmachte, verwandelte sie sich in die Mystische Myra. Sie richtete ihren Wohnwagen her, legte große goldene Ohrreifen an, setzte einen violetten Turban auf und erzählte den Leuten, was die Zukunft für sie bereithielt. Sie war sehr beliebt, weil sie niemandem etwas Unangenehmes voraussagte.
»Ist ja nicht so, dass ich dran glauben würde«, sagte sie zu den Kindern. »Wenn ihr mich fragt, ist es ziemlicher Blödsinn, aber es tut niemandem weh und wir können das bisschen Geld gut gebrauchen.«
Myras Mann Bill war Schwertschlucker gewesen, doch als er eines Tages seine Nummer aufführte, hatten sich zwei Schwerter in seinem Inneren verhakt und er musste sofort ins Krankenhaus und operiert werden. Nun ging er George zur Hand, der Maschinist im Zirkus war.
Bill und Myra waren herzensgut. Sie kochten einen wunderbaren Eintopf für die Kinder und zeigten ihnen ihre Schlafplätze. Sie hatten auch noch etwas zu essen für die Hunde, die die Nacht über im Lkw bleiben sollten. Alle bis auf Fleck.
Der Tottenham-Terrier hatte sich Mühe gegeben, ruhig zu bleiben, doch als er begriff, dass Henry woanders schlafen würde, fing er an zu zittern und fürchterlich zu heulen. Seit Albina Fenton versucht hatte, ihm sein Tuch zu entreißen, und ihn zurück zu Rent-a-Dog gebracht hatte, lebte Fleck in einer Welt, in der nichts mehr sicher war.
Henry, der im Wohnwagen saß und seinen Eintopf aß, hörte ihn winseln. Er legte sein Besteck hin und sagte: »Es tut mir leid, aber er ist noch sehr jung …«
»Kein Problem, dann hol ihn her«, sagte Myra gutmütig.
Also wurde Fleck in den Wohnwagen gebracht, wo er sich zu Henrys Füßen zusammenrollte und mit seinem Tuch im Maul sofort einschlief.
Der nächste Tag war ein Dienstag und alle waren mit den Vorbereitungen für die Vorstellung beschäftigt, die am nächsten Tag stattfinden sollte. Für Henry und Pippa, die noch nie einen Zirkus gesehen, geschweige denn mit einem herumgereist waren, war alles aufregend und neu.
Wie durch Zauberhand stand das Zirkuszelt plötzlich da und kurze Zeit später lagen große Segeltuchplanen auf dem Boden. Auf dem Zeltdach erschien ein großes Banner, auf dem stand: Charlys Zirkus – und sie gehörten dazu!
Sie hatten für alle Hunde Leinen besorgt, sodass sie mit ihnen herumspazieren konnten. Überall gab es etwas zu sehen. Dressurpferde, die hinüber zu ihren Ställen trabten, Akrobaten, die sich auf Matten im Freien aufwärmten, und Clowns, die ihre Kostüme anlegten …
Henry und Pippa schauten und staunten und versuchten, niemandem im Wege zu sein. Nur Otto konnte dem Zirkusleben mit all dem Glanz und Glitter nichts abgewinnen, mit einem matten Ausdruck in seinen blutunterlaufenen Augen trottete er herum. Li-Chee lief schnüffelnd hinter ihm her. Sein langes Fell streifte über den Boden und von Zeit zu Zeit nieste er, um die Fransen aus seinen Augen zu bekommen. Doch Francines Pfoten berührten kaum den Boden. Sie tänzelte und ihre Augen leuchteten. Wenn es jemals einen Hund gegeben hatte, der da war, wo er hingehörte, dann war es der Pudel. Rupert wich nicht eine Sekunde von Francines Seite.
Doch nun rief George die Kinder in seinen Wohnwagen und fragte wieder, ob sie etwas von Elsa gehört hätten.
»Mr Charly braucht eine Hundenummer. Könnt ihr die fünf auch ohne Elsa dazu bringen, was zu machen?«
»Wir können es versuchen«, sagte Pippa. »Aber eigentlich hören sie nur auf Elsa, wir haben bisher nur zugeschaut.«
»Denkt mal drüber nach«, sagte George. »Morgen ist die erste Vorstellung, und wenn Elsa bis dahin nicht aufgetaucht ist, müssen wir euch zurückschicken. Geht ja nicht, dass ihr hier ganz allein durch die Lande stromert.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Henry, als er mit Pippa zurück zum Wohnwagen der Wahrsagerin ging. »Wir können die Hunde ja wohl schlecht dazu bringen, irgendwelche Kunststücke vorzuführen.«
»Wir sind jetzt schon so weit gekommen«, sagte Pippa. »Du weißt, was passiert, wenn sie uns zurückschicken. Die Hunde werden für immer weggesperrt, auch Fleck … und die Polizei wird mir Fragen stellen … das ertrag ich nicht. Irgendwas müssten die Hunde doch tun können. Wenn ich nur wüsste, was.«
Myra war dabei, den Wohnwagen für ihre Kundschaft sauber zu machen.
»In Petrocs Pudelnummer sind die Hunde immer von den Pferden rauf- und runtergesprungen, während die durch die Manege galoppierten«, erzählte sie. »Aber ich nehme mal an, eure Hunde würden das wohl eher nicht machen.«
Die Kinder dachten an die majestätischen Pferde mit ihren langen seidigen Mähnen und schüttelten den Kopf.
»Worin bestand denn dann Elsas Nummer?«, fragte Myra. »Ist es die mit der Hochzeit? Die hab ich immer gemocht. Vor allem, wenn die Hunde im Wagen zur Kirche fahren. Okay, vielleicht ist sie etwas altmodisch, aber die Nummer kommt trotzdem gut an, vor allem, wenn die Clowns mitmachen.«
»Ja«, sagte Pippa, »es ist so eine Art Hochzeitsnummer.«
»Dann dürfte es kein Problem geben. Wenn Elsa nicht rechtzeitig hier sein sollte, könnt ihr Petrocs Sachen nehmen. Er hat alles dagelassen. Es gibt einen kleinen Wagen und einen Korb voll mit Kostümen. Ich suche euch was raus.« Eine Stunde später standen die Kinder und die Hunde im Eingang zur Manege. Zwei der Clowns, Tom und Fred, hatten Petrocs Karre gefunden und Myra hatte den Korb mit den Kostümen herangeschleppt und war wieder in ihrem Wohnwagen verschwunden.
»Wir lassen euch erst mal allein üben«, sagte Tom. »Wenn ihr fertig seid, könnt ihr uns rufen und wir spielen mit. Danach machen wir dann einen richtigen Durchlauf.«
Sie verschwanden und Henry öffnete den Korb und starrte angewidert auf die grellen, billigen Kostüme.
»Was gibt Menschen das Recht, Tiere in solche Klamotten zu stecken, nur damit sie genauso lächerlich aussehen wie sie selber?«, fragte er.
Pippa antwortete nicht, ihr Gesicht war wie versteinert und kalkweiß. Sie starrte auf das mit Sägemehl ausgestreute Rund der Manege und die Reihen von Sitzbänken darüber. »Ich kann das nicht«, stieß sie hervor. »Ich hab keine Ahnung, was wir machen sollen. Ich muss verrückt gewesen sein.«
»Aber wir haben gesagt, dass –«
»Ich kann es nicht«, wiederholte Pippa. »Ich kann es auf keinen Fall.« Sie weinte fast. »Wir müssen die Wahrheit sagen. Es tut mir leid.«
Die Hunde hatten die ganze Zeit über still dagesessen und abgewartet. Doch nun machte Francine einen Schritt nach vorn und steckte ihren Kopf in den Korb, sie zog einen Kranz mit weißen Blüten heraus und legte ihn vor sich hin.