Als Donald nach Hause kam, gelang es ihm, Albina zu beruhigen. Bei diesen Preisen war Montgomerys Privatdetektei nicht nur gut, sie war die beste Detektei überhaupt.
Als Donald gegangen war, griff Curzon zum Telefon.
»Sprocket?«, bellte er in den Hörer.
»Ja, Sir, ich bin’s«, sagte eine hohe Stimme.
»Natürlich sind Sie es, Sie Schwachkopf«, sagte Curzon. »Wer denn sonst?«
Das Team, mit dem Curzon vor Donald Fenton so angegeben hatte, bestand in Wirklichkeit nur aus Sprocket.
»Hören Sie gut zu. Wir haben den Fall von einem verschwundenen Jungen. Ich brauche hundert Flyer und Fotos in allen Tageszeitungen. Es gibt eine Belohnung von 20 000 Pfund für Nachrichten von dem Jungen. Fiona bringt Ihnen gleich alles runter.«
»Jawohl, Sir, ich werde mich gleich darum kümmern.«
Milton Sprocket war ein dünner, blässlicher junger Mann, der im Untergeschoss des Gebäudes arbeitete. Oben im Büro durfte er sich nicht blicken lassen, weil er einen nicht gerade feinen Akzent hatte und auch nur auf eine ganz gewöhnliche Schule gegangen war.
Sprocket nahm seine Arbeit sehr ernst. Nachdem er eine traurige Kindheit verlebt hatte, in der Schule gehänselt wurde und durch sämtliche Prüfungen gefallen war, hatte er sich in einem Fernstudium alles angeeignet, was man als Detektiv wissen musste, und ein Diplom in Ermittlung und Spurenverfolgung erlangt.
Sprocket arbeitete schwer und gründlich. In seinem Büro im Keller gab es einen Schrank mit ordentlich beschrifteten Schubladen, in denen er seine Verkleidungen aufbewahrte. Da gab es eine Schublade, auf der stand: Bärte, Augenbrauen, Nasenhaare. In einer anderen befanden sich: Schorf, Wunden, Pickel und Eiterbeulen und wieder in einer anderen: Brillen, Monokel und Hörrohre.
In einer Ecke gab es Ständer mit Perücken darauf und einen Kasten mit falschen Zähnen. Aufgereiht im Regal standen Flaschen mit Spucke, Blut und Nasenschleim. Letzteres war ein Sonderangebot aus dem Internet gewesen.
Am liebsten verfolgte Sprocket seine Opfer ganz klassisch in unterschiedlichen Verkleidungen, doch den meisten Platz in dem Raum nahm die neueste Technologie ein. Die blinkenden und brummenden Apparaturen neben Curzons Büro waren nur zum Angeben gedacht. Die richtigen Geräte befanden sich hier unten im Keller. Da gab es Fiberglasfernrohre, zum Um-die-Ecke-Gucken, Unterwasserkameras mit Flossen und Navigationsgeräte, die einem sagten, wo man sich befand, wo man hinwollte und wo man gewesen war. Nicht zu vergessen Nachtsichtgeräte und ultraviolette Wärmebildkameras … und da viele dieser Dinge gar nicht so leicht zu bedienen waren, hatte Sprocket einen ganzen Stapel von Bedienungsanleitungen, über denen er stundenlang brütete, um herauszufinden, was wie funktionierte.
Doch damit nicht genug, Sprocket war auch ein Dichter. In der Garage der Agentur stand ein weißer Lieferwagen, den er bei seinen Erkundigungen benutzte und auf dessen Seite er einen Werbespruch angebracht hatte:
Was verlegt oder verloren? Nur die Ruh:
Kommen Sie zu uns, wir finden es im Nu!
Wenn Sprocket sich auf einer geheimen Mission befand und nicht sofort als Detektiv erkannt werden wollte, konnte er diesen Spruch gegen einen anderen austauschen. Manchmal gab er sich zum Beispiel als Gemüsehändler aus und dann stand auf seinem Wagen:
Ist Ihr Hunger groß und mächtig?
Unser Obst ist reif und prächtig!
Außerdem arbeitete er an einem ganz neuen Vers, den er benutzen wollte, wenn er sich als Klempner ausgab, aber das war gar nicht so einfach. Der Spruch sollte stark und wirkungsvoll sein, aber es sollten auch keine unappetitlichen Wörter darin vorkommen.
Er drückte auf die Wiederholungstaste an seinem Telefon und hörte noch einmal Curzons letzte Worte.
»Das ist ein ganz großes Ding, Sprocket. Wehe, du vermasselst es! Mach dich sofort an die Arbeit.«
Sprocket lächelte und rieb sich die Hände. Er war gerade in der rechten Stimmung für einen großen und komplizierten Fall.
14. Kapitel
Das stumme Mädchen
Greystoke House war ein großes steinernes Gebäude am Rand von Todcaster. Von der Straße aus sah es abweisend und düster aus, aber innen waren die Wände in heiteren Farben gestrichen. Es gab ein Zimmer voller Spielsachen und einen Aufenthaltsraum, in dem die größeren Kinder fernsehen konnten.
Die Heimleiterin hieß Mrs Platt. Sie war eine dicke freundliche Frau, die ihr Bestes tat, den Waisen ein Zuhause zu geben. Doch für die Kinder, die hier lebten und darauf warteten, von Pflegeeltern abgeholt zu werden, war es nur »das Heim«. Niemand wollte länger hier bleiben als unbedingt nötig.
An dem Morgen, an dem der Zirkus seine erste Vorstellung geben sollte, war in Greystoke House gerade ein kleines Mädchen aufgewacht, das kein Interesse daran hatte, von Pflegeeltern aufgenommen zu werden. Es schien auch sonst an nichts Interesse zu haben. Das Mädchen war sehr hübsch mit seinen großen dunklen Augen, der goldfarbenen Haut und dem lackschwarzen Haar, aber es lebte in einer für andere unzugänglichen Welt.
Nini stammte aus Indonesien, von einer Insel voller üppiger Wälder, kristallklarer Flüsse und mit Bergen, die wie große grüne Kegel aussahen. Neben diesen Naturschönheiten gab es dort jedoch auch plötzliche Erdbeben und schreckliche Schlammlawinen. Bei einer dieser Katastrophen war Ninis Familie ums Leben gekommen und man hatte Nini in ein Waisenhaus gebracht, das von Nonnen geführt wurde.
Das Waisenhaus lag in der Nähe eines Klosters, in dem die Mönche friedlich sangen und beteten, während ihre Wachhunde auf den steinernen Stufen saßen, um die bösen Geister fernzuhalten.
Eines Tages waren ein reicher Geschäftsmann und seine Frau auf die Insel gekommen, um dort Ferien zu machen. Sie hatten das kleine Mädchen gesehen, das ruhig unter einem Jacaranda-Baum spielte, und beschlossen, es zu adoptieren und mit nach England zu nehmen.
Die erste Zeit hatte es ihnen Spaß gemacht, ihre hübsche Tochter nett anzuziehen und mit ihr vor ihren Freunden anzugeben. Doch dann stellten sie fest, dass das kleine Mädchen nicht so schnell Englisch lernte, wie sie gehofft hatten. Ja, Nini sprach nicht nur nicht Englisch, sie sprach überhaupt nicht.
Sie schleppten sie von einem Arzt zum anderen und bekamen viele Diagnosen für das, was mit Nini nicht stimmte, aber keiner wusste, was zu tun war. Nini war nicht taub, auch ihre Augen waren in Ordnung, aber sie war eingeschlossen in ihrer eigenen Welt.
Als sie wieder einmal einen ganzen Tag lang in einem Krankenhaus verbracht hatte, um irgendwelche Tests zu machen, bekam sie einen fürchterlichen Wutanfall.
»Das ist typisch für die Asiaten«, hatte ein Freund gemeint. »Man nennt es Amoklauf.«
Das war zu viel für das Ehepaar, das doch eigentlich nur eine hübsche, plappernde Puppe hatte haben wollen. Sie brachten Nini zum Jugendamt und sagten, sie könnten sie unmöglich behalten. Seither befand sie sich in Greystoke House. Sie benahm sich nicht schlecht, sie war auch nicht schwierig, sie war praktisch nicht da.
Nun stieg sie aus dem Bett und lief leichtfüßig wie eine Elfe den Korridor entlang und in den Schlafsaal der älteren Jungen. Dem Jungen, dessen Bett direkt neben der Tür war, zog sie die Decke weg.
Mick erwachte, und als er Nini sah, setzte er sich auf.
»Der Zirkus ist da, Nini. Heute gehen wir in den Zirkus«, wiederholte er noch einmal.
Mick war ein kräftiger Bursche mit roten Haaren, Sommersprossen und einem fröhlichen, offenen Gesicht. Sein Großvater war Bergmann gewesen, bis man die Mine geschlossen hatte. Aus unerfindlichen Gründen war Mick Ninis Beschützer geworden und der Einzige, den sie überhaupt zur Kenntnis nahm.