»Ich wollte nur wissen, ob wir den kleinen Hund sehen können, der versucht hat, den Wagen zu ziehen. Den Pekinesen. Sie ist total verrückt nach ihm.«
Nini schaute hoch. »Kleiner Hund«, sagte sie.
»Ich glaube, sie kennt diese Hunde aus ihrer Heimat. Es sind Tempelhunde, die die Mönche beschützen und böse Geister fernhalten. Es ist wirklich komisch, Nini hat noch nie auf irgendwas reagiert bis heute. Die Heimleiterin hat uns erlaubt, den Hund anzuschauen. Sie ist mit den anderen bei den Pferden.«
»Kleiner Hund«, wiederholte Nini, die bisher noch kein Wort gesprochen hatte.
»Er ist im Lkw, zusammen mit den anderen. Direkt da drüben«, sagte Henry. »Kommt mit, wir zeigen ihn euch.«
Sie wurden von einem mehrstimmigen freundlichen Bellen begrüßt. Mick hob Nini auf einen der Strohballen, sie verschwand fast zwischen den Hunden. Sie erwarteten, dass das kleine Mädchen nun Li-Chee auf den Schoß nehmen und streicheln würde, aber das geschah nicht. Nein, als sie noch einmal hinschauten, sahen sie, dass Nini im Schneidersitz vor ihm saß und leise in ihrer Sprache mit ihm redete, während Li-Chee ganz still war und sie respektvoll anschaute. Es schien, als verstünde er jedes Wort.
»Ihr könnt euch nicht vorstellen, was das bedeutet«, sagte Mick und erzählte in wenigen Worten Ninis Geschichte.
Die Kinder hatten inzwischen den Lkw verlassen und standen etwas abseits, um Nini nicht zu stören. Sie unterhielten sich leise, als auf der anderen Seite des Lkws zwei Stallburschen vorbeikamen.
»Guck mal hier«, sagte der eine. »Auf Seite zwei.«
Man hörte das Umblättern einer Zeitung. »Ich fress ’n Besen, wenn das nich das Foto von dem Jungen mit dem weißen Hund is. Der bei Myra und Bill wohnt. Findste nich auch?«
Den Kindern gefror das Blut in den Adern, als sie das hörten.
Der zweite Stallbursche pfiff durch die Zähne. »›Zwanzigtausend Pfund Belohnung für Informationen‹ steht da, das kann nich derselbe Junge sein.«
»Vielleicht nich. Aber er sieht ihm verdammt ähnlich und ’nen Versuch is es wert. Da steht die Telefonnummer.«
Die beiden Männer gingen weiter, und was sie sagten, war nicht mehr zu verstehen. Mick schaute Pippa und Henry an, denen die Angst im Gesicht stand.
»Ich will nicht neugierig sein, aber kann ich euch irgendwie helfen?«, fragte er. »Ich meine, wenn ihr auf der Flucht seid oder so?« Und als Pippa und Henry Blicke wechselten, sagte er schnell. »Ihr müsst mir nichts erklären, ich helfe euch auch so. Das macht keinen Unterschied.«
Henry zögerte nur einen Moment. Der rothaarige Junge konnte die 20 000 Pfund bestimmt genauso gut gebrauchen wie die beiden Stallburschen. Aber er fühlte, dass er Mick vertrauen konnte, dass der Junge aufrichtig, ehrlich und tapfer war. Er sagte: »Ja, vielleicht könntest du uns helfen. Wir müssen sofort von hier verschwinden, aber wir wissen noch nicht einmal genau, wo wir überhaupt sind. Wir müssten uns die Nacht über verstecken und, wenn es hell wird, weiterziehen.«
Pippa hörte Henry stirnrunzelnd zu. Normalerweise traf sie die Entscheidungen, außerdem wussten sie praktisch nichts über den Jungen.
»Ihr könnt die Nacht über bei uns im Heim bleiben«, sagte Mick. »Im Keller gibt es einen Heizungsraum. Da kommt nie jemand hin. Ich weiß, wo der Schlüssel ist. Ich schnapp ihn mir und dann besorg ich euch was zu essen und ein paar Decken. Nachts ist nur Mrs Platt da und die schläft wie ein Bär.«
»Willst du das wirklich tun?«, fragte Henry. »Es könnte klappen. Aber wie kommen wir zu euch? Seid ihr mit dem Bus gefahren?«
Mick schüttelte den Kopf.
»Wir sind gelaufen, es sind nur zwanzig Minuten. Ich zeichne euch den Weg auf.«
»Und was ist mit den anderen Kindern?«, fragte Pippa. »Können wir sicher sein, dass sie uns nicht verraten?«
»Ja«, sagte Mick. »Das könnt ihr.«
Sie hinterließen eine Nachricht für George. Es fiel ihnen schwer, jemanden anzulügen, der ihnen so geholfen hatte, aber sie hatten keine Wahl. Sie schrieben, dass Tante Elsa ihnen mitgeteilt hätte, dass sie nicht kommen könnte, da ihr Schwager im Krankenhaus läge, und sie nun den Nachtbus zurück nach London nehmen würden. Glücklicherweise waren Bill und Myra ins Kino gegangen, sodass die Kinder ihnen schriftlich Auf Wiedersehen sagen und sich für alles bedanken konnten.
Dann packten sie schnell ihre Siebensachen zusammen und holten die Hunde.
Zuerst ging alles gut. Den Hunden gefiel der nächtliche Spaziergang. Sie merkten wohl, dass Pippa ihren Rucksack umschnallte und Henry seine Reisetasche mitnahm, außerdem trugen beide ihre Anoraks. Für Fleck, Otto, Li-Chee und Honey hieß das, dass sie auf dem Weg zu einem neuen Abenteuer waren, und sie freuten sich darauf.
Francine aber nicht. Francine wusste, dass das bedeutete, sie würden den Zirkus verlassen. Und mit dem Zirkus – Rupert.
Sie blieb, wo sie war, und rührte sich nicht. Sie warf ihren Kopf zurück und heulte. Es war ein Heulen der Verzweiflung und der Einsamkeit, die Kinder hatten solche schrecklichen Laute noch nie gehört.
Von Georges Wohnwagen, in dem Rupert schlief, kam Antwort. Und dann kam Rupert selbst.
Was nun folgte, war kaum zu ertragen. Die beiden Pudel standen nebeneinander in der Dämmerung. Ihre Körper waren so dicht beieinander, dass sie zu verschmelzen schienen. Sie bellten nicht, sie jaulten nicht, sie zitterten nur, als ob ein großer Kummer sie schüttelte.
Henry und Pippa schauten sich fragend an. Durften sie Francine zwingen, mit ihnen zu kommen? Sie liebte das Zirkusleben und sie liebte Rupert.
Aber andererseits konnten sie auch nicht ohne Francine gehen. Diese Flucht hatte sie alle zusammengeschweißt und sie mussten sie gemeinsam durchstehen.
Die beiden Pudel standen still wie zwei Statuen. Außer ihnen beiden existierte nichts und niemand für sie. Otto machte ein paar Schritte auf sie zu und hielt inne. Francine und er waren seit Langem Freunde, aber jetzt musste sie selbst entscheiden.
»Komm, Henry«, sagte Pippa, die es nicht länger ertrug. »Wir müssen hier weg. Lass sie, sie hat ein Recht hierzubleiben.«
Die Kinder drehten sich um und gingen langsam über das von vielen Füßen zertrampelte Gras. Sie hatten gerade den Eingang des Zirkusgeländes erreicht, als Francine einen letzten, zu Herzen gehenden Heuler ausstieß. Dann riss sie sich von Rupert los und lief hinter ihnen her.
15. Kapitel
Im Heizungskeller
Mrs Platt lag im Bett und schnarchte, sie schnarchte so laut, dass es klang, als würden die Fensterläden im Wind klappern.
Einer der Jungs, der Wache hielt, lehnte sich aus dem Flurfenster und gab Mick, der sich im Gebüsch versteckt hatte, ein Zeichen, dass die Luft rein war. Im Schlafsaal der Mädchen lag Nini still in ihrem Bett, aber es sah nur so aus, als würde sie schlafen. Es war fast dunkel. Mick wartete auf Henry und Pippa, sie konnten jeden Moment eintreffen. Die Hunde liefen langsam, der Tag war anstrengend gewesen und die Zirkusnummer hatte sie erschöpft.
Francine trottete mit hängendem Kopf den anderen hinterher. Normalerweise war sie leichtfüßig und immer vorneweg, doch nun konnte sie kaum eine Pfote vor die andere setzen. Jeder Schritt entfernte sie weiter von dem Ort, an dem sie so gern geblieben wäre. Sie sah aus, als wäre es ihr egal, ob sie leben oder sterben müsste.
Henry versuchte, aus Micks Plan schlau zu werden, den der hastig auf die Rückseite eines Briefumschlags gekritzelt hatte. Im schwächer werdenden Tageslicht waren sie zuerst falsch abgebogen, irgendwann standen sie dann doch vor den Toren von Greystoke House.
Sofort war Mick zur Stelle.
»Ihr müsst jetzt ganz ruhig sein«, sagte Pippa zu den Hunden und legte den Finger auf den Mund. Die Hunde verstanden und folgten Mick, der sie zur Rückseite des Gebäudes führte und dort eine steinerne Treppe hinunter in den Heizungskeller.