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Sehr anheimelnd war es dort nicht. Der Fußboden war aus Beton, Rohre verliefen an der Wand, in der Ecke summte ein großer Ofen. Erhellt wurde der Raum durch ein schwaches blaues Licht. Aber es war trocken, es war warm und es gab Kissen und Decken, die Micks Freunde »geborgt« und heimlich nach unten gebracht hatten. Auf dem Boden standen eine große Schüssel mit Wasser und Teller voll mit Fleischklößchen und Reis.

»Haben wir euch etwa euer Abendessen weggenommen?«, fragte Pippa. Mick zuckte nur mit den Schultern. »Das Küchenmädchen passt nicht auf, es war also kein Problem, was abzuzweigen. Wir müssen hier nicht hungern. Das Essen ist zwar langweilig, aber in Ordnung.« Dann fügte er seufzend hinzu: »Das ist ja das Schlimme hier im Heim, dass nie etwas passiert. Wir haben kein Problem damit, hungrig ins Bett zu gehen, wenn wir wissen, dass wir helfen können.«

Die Hunde starrten die Teller sehnsüchtig an, aber sie waren viel zu gut erzogen, als dass sie einfach angefangen hätten zu fressen. Als die Kinder es ihnen erlaubten, machten sie sich begeistert über Fleischbällchen und Reis her.

Alle außer Francine. Sie warf einen Blick auf das Futter, dann wandte sie den Kopf ab und verzog sich in eine Ecke, als wollte sie mit ihrem Kummer allein bleiben.

»Komm, Francine«, sagte Pippa und strich der Hündin liebevoll über den Kopf. »Versuch doch wenigstens ein bisschen was.«

Aber Francine wollte nichts fressen. Sie gab Pippa die Pfote, um ihr zu zeigen, dass sie sehr wohl verstanden hatte. Nun bekam auch Pippa keinen Bissen herunter.

»Wir halten weiter Wache«, sagte Mick. »Morgen wecken wir euch sehr früh, damit ihr weg seid, falls der Heizer kommt. Eigentlich ist er morgen nicht dran, aber man kann nie wissen.«

Henry und Pippa schauten Mick dankbar an.

»Das werden wir dir nie vergessen«, sagte Henry. »Niemals. Und wenn es irgendetwas gibt, das wir für dich tun können, du weißt schon …«

Nun, da sie vorübergehend in Sicherheit waren, hatten Henry und Pippa Zeit, darüber nachzudenken, wie ihr Verschwinden im Zirkus wohl aufgenommen worden war. Hatte der Stallbursche sie verpfiffen? Verfolgte man sie bereits? Es war nicht mehr sehr weit bis zum Haus von Henrys Großvater, aber selbst bei strammem Marsch über Moor und Felder würden sie zwei Tage brauchen, bis sie an der Küste waren.

Doch dann hörten sie auf, miteinander zu flüstern, sie rollten sich unter den Decken zusammen, und obwohl es auf dem harten Boden nicht sehr bequem war, schliefen sie bald ein.

Auch die Hunde schliefen. Otto lag dicht bei Francine und sein schwerer, verlässlicher Körper beruhigte sie ein wenig. Ein- zweimal in dieser Nacht wachte sie kurz auf und jaulte auf, aber dann rückte Otto näher an sie heran und sie war wieder ruhig.

Fleck lag quer über Henrys Beinen, sein Tuch zwischen den Pfoten.

Oben im ersten Stock schnarchte Mrs Platt immer noch, pfeifend entwich der Atem ihrem mächtigen Brustkorb, und während sie das stetige, nicht sehr angenehme Geräusch hörten, wussten Mick und seine Freunde, dass die Flüchtlinge in Sicherheit waren.

Im Schlafsaal nebenan saß Nini aufrecht in ihrem Bett. Sie hatte lange gewartet, doch nun schlug sie die Decke zurück. Sie nahm Kamm und Bürste von ihrem Nachttisch und schlich lautlos wie ein Geist den Korridor entlang.

Auf dem obersten Treppenabsatz lief sie geradewegs Mick in die Arme, der Wache hielt.

»Will zu kleinem Hund«, sagte sie. »Will zu Li-Chee.«

Mick starrte sie an. Woher konnte sie wissen, dass der Hund im Haus war? Hatte sie etwas von dem mitbekommen, das er mit Henry und Pippa besprochen hatte, oder hatte sie andere Möglichkeiten, von Dingen zu erfahren? Wie auch immer, er konnte nichts riskieren. Selbst Mrs Platt würde bei einem von Ninis Wutanfällen aufwachen.

Er nahm ihre Hand. »Du kannst Li-Chee sehen, aber du musst ganz, ganz leise sein oder sie bringen ihn weg. Verstehst du mich? Mucksmäuschenstill.«

Nini nickte und er führte sie die Kellertreppe hinunter bis vor den Heizungsraum.

Das kleine Mädchen bewegte sich absolut lautlos. Sie öffnete die Tür so leise, dass sich die Hunde kaum rührten und die Kinder weiterschliefen. Nur Li-Chee, der seinen üblichen Platz neben Otto Francine überlassen hatte, hob den Kopf.

Er war überrascht, dass man ihn weckte, und zuerst glaubte er auch, das Mädchen sei wegen einem der anderen Hunde gekommen, bisher hatten sich nur alte Damen für ihn interessiert. Doch als Nini sich vor ihn hinkniete, begriff er, dass sie wirklich ihn meinte, und obwohl er sehr müde war und gern weitergeschlafen hätte, bemühte er sich, wach zu bleiben, und leckte ihr das Handgelenk.

Und wieder machte das Mädchen keine Anstalten, den Pekinesen zu umarmen oder auf den Schoß zu nehmen. Stattdessen nahm Nini Bürste und Kamm und fing an, vorsichtig, sehr vorsichtig sein langes seidiges Fell zu kämmen und ihm die Haare aus den Augen zu streichen.

Und während sie ihn bürstete und kämmte, fühlte sie sich zurück in ihre Heimat versetzt, wo sie den Tempeltänzerinnen geholfen hatte, die kleinen Wachhunde für die Feste vorzubereiten.

Alles war auf einmal wieder da, alles, was sie so schmerzlich vermisste und tief in ihrem Inneren verschlossen hatte: den Geruch des Jasmin, die Tempelglocken, die leisen Stimmen der Nonnen im Waisenhaus … die Wärme, die Sonne auf ihrer Haut … und nicht zuletzt ihre eigene Sprache.

Unaufhörlich kämmte und bürstete Nini den Pekinesen und murmelte dabei vor sich hin. Und während sie das tat, überwältigte sie das Heimweh, das sie in ein stummes, starres Wesen verwandelt hatte, und all die Tränen, die sie nicht hatte weinen können, liefen ihr die Wangen herunter.

Vertrauensvoll stand Li-Chee vor ihr. Er hatte sie bereits ins Herz geschlossen. Sie hatte ihn gewählt und er hatte sie gewählt. Aber während sie ihn weiter striegelte, kam aus seiner Kehle ein leises Grollen und Nini legte die Bürste hin. Sie kannte diesen Laut, auf seine Art wollte der Hund ihr zu verstehen geben, dass er nicht gebürstet und nicht verehrt werden wollte.

Einen Moment lang saß Nini ganz still da und dachte nach. Dann schüttelte sie kurz den Kopf, als wollte sie all ihre Erinnerungen und ihren Kummer loswerden. Sie schaute sich in dem dämmrigen Raum um und sah die anderen Hunde. Sie dachte an das dünne Mädchen im Kindergarten, das sich an ihren Rock gehängt hatte und ihre Freundin sein wollte, an die Spiele, die sie im Garten von Greystoke House spielten, an das Eichhörnchen, das sie gezähmt hatten, an die Comics, die sie abends im Bett anschauten. Und sie dachte an Mick.

Es war an der Zeit, einen Schritt vorwärts zu machen.

»Warte auf mich«, sagte sie zu Li-Chee.

Nini schlich aus dem Keller und hoch in Mrs Platts Wohnzimmer. Sie wusste wo die Scheren waren, ganz unten in Mrs Platts Nähkorb.

Nini nahm sie und achtete darauf, dass sie sie mit den scharfen Spitzen nach unten hielt, so wie sie es gelernt hatte, dann ging sie zurück in den Heizungskeller. Es würde nicht leicht sein, aber sie wollte tapfer sein.

Li-Chee saß immer noch an dem gleichen Platz.

»Ich will dir nicht wehtun«, sagte Nini. »Beweg dich nicht.«

Dann begann sie zu schneiden und zu schnippeln und wieder zu schneiden und der goldene Seidenvorhang, der Li-Chee so lange zum Gefangenen gemacht hatte, fiel geräuschlos auf den Boden.

Pippa wachte als Erste auf und hatte Mühe, einen Entsetzensschrei zu unterdrücken.

»Um Himmels willen, was hast du getan? Der arme, arme Hund!«

Nini antwortete nicht, sie lächelte nur.

»Das ist sein Ende«, sagte Pippa. »Er wird nie wieder in einer Hundeshow auftreten können. Keiner wird ihn haben wollen.«

Doch nun erhob sich Li-Chee und schüttelte sich, um zu zeigen, dass es nichts mehr zu schütteln gab. Und dann gebärdete er sich wie toll. Er sauste kreuz und quer durch den Keller, wälzte sich auf den Rücken, streckte alle viere in die Luft und stieß dabei hohe Freudenschreie aus.