Doch dann lief sie zurück zum alten Selby und schaute zu ihm auf. Hier war jedoch ihr wahrer Herr, hier konnte sie das tun, was sie tun wollte, und sie selbst sein. Dann nahm sie verwirrt zwischen Pippa und dem Hirten Platz.
Selby beugte sich zu ihr hinunter und kraulte sie zwischen den Ohren. Er wusste, dass er sie behalten konnte. Er musste nur sagen: »Bleib!«, und sie würde bleiben.
Pippa schwieg. Sie musste an Francine denken. Honey würde sich entscheiden müssen, aber war das auch fair?
In Pippas Klasse war ein Mädchen gewesen, dessen Eltern sich hatten scheiden lassen. Sie war ganz gut damit zurechtgekommen, bis sie sich eines Tages entscheiden sollte, bei welchem Elternteil sie leben wollte. Danach war sie einfach zusammengebrochen.
Wenn es schon für einen Menschen so schwierig war, sich zu entscheiden, wie dann erst für einen Hund?
Schließlich war es der alte Selby, der Honey die Entscheidung abnahm. Er hatte noch nie jemandem den Hund weggenommen und würde das auch nicht tun, aber es fiel ihm schrecklich schwer.
Er hob seinen Stock und rief Honey zu: »Los, verschwinde!«, sagte er so unfreundlich, wie er nur konnte. »Raus mit dir.«
Honey jaulte auf, schaute ihn an und leckte ihm die Hand, aber er hielt immer noch drohend den Stock und langsam, ganz langsam und immer wieder über die Schulter zurückschauend, folgte die Hündin Pippa aus der Tür.
Der alte Selby stand auf seiner Veranda und sah ihnen hinterher. Wunder gab es, das war mal sicher, aber anscheinend nicht für ihn. Seine Augen wurden feucht, ärgerlich wischte er sie mit seinem Ärmel trocken.
»Verdammter Wind«, murmelte er.
Dann ging er zurück ins Haus und griff zum Telefon, um seine Nichte anzurufen.
18. Kapitel
Der Müllgangster
Eigentlich war Kevin Dawks ein netter Mensch. Immer bereit, anderen zu helfen. Er half dem Manager des Supermarktes, der nicht wusste, wohin mit dem verrotteten Gemüse und den alten Plastiktüten, er half dem Besitzer der Kneipe, der seinen kaputten Fernseher loswerden wollte und ein Fahrrad, das sein Sohn zu Schrott gefahren hatte. Und er half dem Automechaniker, der nicht wusste, wohin mit den Kanistern voll Altöl und anderen giftigen Flüssigkeiten.
Kevin half all diesen Leuten, indem er den Müll auf seinen Kipplaster lud und irgendwo verschwinden ließ. Er brachte ihn zu abgelegenen ländlichen Plätzen, kippte ihn zum Beispiel in einen Wald voller Glockenblumen oder in einen Fluss oder auf ein frisch bestelltes Feld. Ihm war egal, wo, Hauptsache, es gab keine Zeugen.
Natürlich verlangte er Geld für diese Dienste. Illegal Müll abzuladen ist verboten und ziemlich gefährlich. Kevin musste ständig auf der Hut vor der Polizei sein. Und da er bei Weitem nicht das verdiente, was seine Arbeit wert war, hatte er auch noch ein paar andere Jobs. Er hortete Diebesgut wie Zigaretten oder Schmuck oder Werkzeug, das erst einmal aus dem Verkehr gezogen werden musste, bevor man es weiterverkaufen konnte. Er besaß einen Schuppen am Rande des Moors, der ihm als Versteck diente.
Nachdem die Kinder den Schäfer verlassen hatten, waren sie stramm marschiert und am frühen Nachmittag erreichten sie einen von Birken gesäumten Weg, der an einem fröhlich plätschernden Flüsschen entlangführte.
»Mein Großvater sagt, dass man aus all den Flüssen und Bächen hier oben trinken kann«, erzählte Henry. »Das Wasser kommt aus den Bergen und ist das sauberste von ganz England. Geh ruhig schon mal vor, ich fülle nur meine Wasserflasche.«
»In Ordnung«, sagte Pippa, »aber bleib nicht zu lange.«
Sie ging mit den anderen Hunden weiter, während Henry und Fleck das steile Ufer hinunterkletterten. Es war wunderschön hier. Dunkelgrüne Farnkrautwedel entrollten sich, zwischen den Birken wuchsen blaue Glockenblumen … diese verwunschen Flusstäler hatten einen eigenen Zauber.
Fleck war vorausgelaufen, doch nun kam er zu Henry zurück und hielt ihm seine Pfote entgegen.
»Was ist denn, Fleck?«
Fleck winselte und Henry sah zwischen seinen Krallen ein Stück rostigen Draht. Er zog es vorsichtig heraus und jetzt bemerkte er auch den Geruch.
Ein Geruch, der zu diesem lieblichen Ort überhaupt nicht passte. Ein Übelkeit erregender Gestank nach Fäulnis und Verfall.
Dann erblickte Henry einen Berg von Müll, der sich den Abhang hinunter in den Fluss ergoss. Eine zerschlissene Matratze, Kanister, aus denen Öl ins Gras lief, und jede Menge vergammelter Lebensmittel. Aus einem umgekippten Sofa staken die Sprungfedern heraus. Und über allem hing dieser unerträgliche Geruch …
Henry wusste nicht, wie er wieder zurück auf den Weg gekommen war. Er stand unter Schock. Wer konnte das getan haben, wer konnte diese Idylle in eine Müllkippe verwandelt haben? Er hielt immer noch die Luft an, während er sich bückte, um seinen Schnürsenkel zuzubinden. In diesem Moment fuhr ein Laster an ihm vorbei, bremste ab und rollte rückwärts auf ihn zu.
Kevin hatte seine Ladung in den Fluss gekippt und in seinem Wagen ein Nickerchen gemacht, wie man es tut, wenn man seine Arbeit ordentlich erledigt hat. Er wollte gerade wieder zu seinem Versteck im Moor fahren, als er am Wegesrand einen Jungen sitzen sah. Der Junge war blond und trug einen blauen Anorak – und irgendwie kam er ihm bekannt vor.
In Kevins Nacken stellten sich die Haare auf, das taten sie immer, wenn er ein gutes Geschäft witterte. Er bremste und griff nach der Zeitung. Ja, es war genau, wie er es sich gedacht hatte. Er hatte die Anzeige beim Frühstück gesehen und nun schaute er sie sich genauer an. Das war er! Das war der Junge, für den es 20 000 Belohnung gab! Er schaute noch einmal hin, doch ein Irrtum war ausgeschlossen. Kevin konnte sein Glück kaum fassen, er lehnte sich aus dem Fenster und rief, so freundlich er konnte: »Soll ich dich ein Stückchen mitnehmen?«
Henry schüttelte den Kopf. »Danke, aber ich bin mit meiner Freundin unterwegs. Ich muss sie nur einholen.«
Kevin grinste. Es war klar, dass der Junge log. In der Zeitung hatte nichts von einer Freundin gestanden, aber er würde so tun, als ob er es glaubte.
»Kein Problem, ich fahre in dieselbe Richtung. Ich gabele sie auf und bring euch beide ins nächste Dorf. Es ist nicht weit. Ach übrigens, ich bin Kevin.«
Henry zögerte, aber nur kurz. Er hatte schon zu viel Zeit verloren. Mick hatte er auch vertraut und war nicht enttäuscht worden. Die Menschen hier oben im Norden waren einfach nett und freundlich.
»In Ordnung, vielen Dank«, sagte er und kletterte in die Fahrerkabine. Dann hob er Fleck hoch, aber der Hund benahm sich eigenartig. Als Kevin den Motor startete, fing er an zu knurren und zeigte seine Zähne.
»Still, Fleck!«, sagte Henry.
Doch der sonst so gehorsame Fleck reagierte nicht. Henry versuchte ihn zu beruhigen und bemerkte nicht gleich, dass der Lkw scharf nach links in einen holprigen Pfad eingebogen war.
»Halt«, sagte er. »Das ist der falsche Weg. Wir müssen geradeaus fahren.« Und als Kevin nicht reagierte, sagte er lauter: »Wo fahren Sie hin?«
»Das merkst du noch früh genug«, sagte Kevin. Seine Stimme klang nun ganz anders als vorher, barsch und unfreundlich.
Fleck war nun nicht mehr zu beruhigen. Er sprang von Henrys Schoß und versuchte, auf das Lenkrad zu klettern. Und die ganze Zeit über bellte er aus Leibeskräften.
»Halt, die Klappe, blöder Köter«, sagte Kevin. Er packte den Hund am Genick und warf ihn aus dem Fenster.
Henry schrie laut auf und versuchte, die Tür aufzumachen, doch Kevin streckte einen Arm aus und hielt ihn fest. Er würde sich die 20 000 Pfund nicht durch die Lappen gehen lassen.
Während Fleck ängstlich jaulend auf dem Weg zurückblieb, fuhr der Laster bergauf zu einem Schuppen aus Stein mit einem Wellblechdach. Kevin zerrte den zappelnden Jungen aus dem Wagen und schubste ihn durch die Tür.