Dann wurden sie ins Refektorium geführt, wo die Mönche an einem langen Tisch saßen und aßen. Am Kopfende der Tafel hatte in einem mit Schnitzwerk verzierten Stuhl der Abt Platz genommen, an einem Stehpult stand ein alter Mönch und las aus dem Leben der Heiligen vor.
Die Kinder setzten sich auf eine Bank. Sie bekamen zwei Teller mit Suppe und große Stücke Brot, und während sie aßen, sahen sie aus den Augenwinkeln, dass auch die Hunde sich über gut gefüllte Fressnäpfe beugten und hungrig fraßen.
Nach der Suppe gab es eine Schüssel mit Obst. Henry konnte gerade noch erkennen, dass es Äpfel und Birnen waren, dann verschwamm alles vor seinen Augen und er wäre beinah mit dem Kopf auf dem Tisch aufgeschlagen.
Am Kopfende der Tafel gab der Abt ein Zeichen und Bruder Malcolm trat zu den Kindern.
»Es ist Zeit für euch, schlafen zu gehen«, sagte er.
Er führte Pippa und Henry aus dem Saal und Li-Chee, Francine, Honey und Fleck folgten. Nur Otto nicht. Er leckte die anderen zum Abschied, dann trottete er hinüber zum Abt und legte ihm seinen dicken Kopf auf die Füße.
Die Kinder folgten Bruder Malcolm die Treppe hinauf und einen stillen Flur entlang, von dem lauter gleich aussehende Türen abgingen. Sie waren kaum noch überrascht, als Bruder Malcolm die erste Tür öffnete und sich dahinter Hundekörbchen und eine Wasserschüssel befanden.
»Es ist wie in dem Märchen von Goldlöckchen und den Bären«, flüsterte Pippa. »Nur dass es hier Hunde sind.« Henry nickte.
Li-Chee, Francine und Honey suchten sich sofort die passenden Körbe und drehten sich ein paarmal um sich selbst, um es sich für die Nacht bequem zu machen. Fleck blieb abwartend an Henrys Seite. Aber er sah dabei nicht ängstlich aus wie früher, wenn er befürchten musste, von seinem Herrn getrennt zu werden. Es schien eher, als ob er meinte, auf Henry aufpassen zu müssen. Bruder Malcolm erkannte das sofort.
»Vielleicht sollte der Hund besser heute Nacht bei dir bleiben«, sagte er zu Henry.
Zehn Minuten später lag Pippa im Bett in einem der kleinen weiß gekalkten Räume, die die Mönche für Gäste bereithielten. Henry schlief in dem Raum daneben, Fleck lag vor dem Bett auf dem Fußboden.
Henry schlief sofort ein, doch nach einer Stunde wachte er davon auf, dass Fleck zu ihm ins Bett hüpfte.
»Nein, Fleck, geh wieder runter«, befahl Henry mit Blick auf die schneeweiße Bettdecke. Er musste daran denken, wie sehr sich seine Mutter über Hunde im Bett aufgeregt hatte. Doch Fleck rührte sich nicht, also wiederholte Henry: »Hast du nicht gehört? Hunde dürfen nicht im Bett schlafen, das ist verboten!«
Widerstrebend sprang Fleck zurück auf den Boden. Die Tür war nur angelehnt, er lief hinaus in den Flur und wieder zurück zu Henry.
»Ich verstehe, du willst bei deinen Freunden schlafen«, sagte Henry und stieg aus dem Bett. »Ich bringe dich zu ihnen.«
Doch als sie an der nächsten Tür vorbeikamen, die ebenfalls einen Spalt auf war, blieb Fleck stehen.
»Was ist denn?«, fragte Henry und folgte Flecks Blick.
Ein offensichtlich ziemlich beleibter Mönch lag im Bett und schnarchte leise. Quer über seinem Bauch hingen selig schlafend drei Welpen, eingelullt vom Rhythmus des sich hebenden und senkenden Brustkorbs.
»In Ordnung, Fleck. Du hast gewonnen«, sagte Henry.
In weniger als fünf Minuten war Henry wieder eingeschlafen und sein Hund lag zusammengerollt neben ihm im Bett.
Erst am nächsten Morgen fand Pippa heraus, was es mit dem Kloster, in dem sie sich befanden, auf sich hatte.
Am Abend zuvor war sie viel zu müde gewesen, um überhaupt etwas aufzunehmen, doch als sie jetzt aufwachte, schaute sie sich neugierig in ihrer Kammer um. Sie war sehr einfach möbliert, der einzige Schmuck war ein Ölbild an der Wand gegenüber dem Bett. Es zeigte einen Mann in Sandalen und langem Gewand, der einen Stab in der Hand hielt. Er hatte einen Heiligenschein um den Kopf und zu seinen Füßen saß ein Hund mit einem Stück Brot im Maul. Es war ein hübscher, schwarz-weiß gefleckter Hund, aber er schien sehr besorgt zu sein. Das Brot war nicht für ihn, das sah man deutlich. Es war für den Mann mit dem Heiligenschein gedacht.
Unter dem Bild stand in goldenen Lettern St. Roc.
Pippa schlug sich an die Stirn. »Natürlich, wie konnte ich nur so dumm sein?«
Ihre Großmutter war sehr fromm gewesen und hatte ihr oft die alten Legenden von den Heiligen erzählt. Einer dieser Heiligen war ein Mann namens Roc gewesen, er hatte sich um die Pestkranken gekümmert, so lange, bis er selbst an der Pest erkrankte und sich zum Sterben in den Wald zurückzog. Doch er starb nicht, denn ein Hund brachte ihm die Reste vom Tisch seines Herrn, so lange, bis Roc sich wieder erholte. Heilige mussten ja oft sehr leiden, wurden mit Pfeilen beschossen oder aufs Rad geflochten und starben einen qualvollen Tod. Doch der heilige Roc starb nicht, er wurde von einem namenlosen Hund gerettet und seither galt er als Schutzpatron der Hunde.
Ihm zu Ehren war dieses Kloster gebaut worden.
Als Bruder Malcolm Pippa ihre trocknen Sachen brachte, erzählte er ihr, dass die Mönche versuchten, die Arbeit des heiligen Roc fortzusetzen und dass es in der Kapelle ein Bleiglasfenster gäbe, das ihn zeigte.
Die Mönche hatten bereits gefrühstückt, als die Kinder ins Refektorium kamen, doch für sie waren noch zwei Gedecke da. Es gab frische Milch, selbst gebackenes Brot und Honig aus den Bienenstöcken des Klosters. Natürlich stand auch das Frühstück für die Hunde bereit.
Doch von Otto fehlte jede Spur.
Als sie mit Essen fertig waren, führte Bruder Malcolm Pippa und Henry durch eine Pforte im Kloster in einen ummauerten Garten. Das Wetter hatte sich beruhigt, nach dem Sturm war die Luft nun sanft und klar.
Sie spazierten auf sauber geharkten Wegen zwischen Kräuterbeeten und Reihen von Gemüsesetzlingen entlang und kamen in einen Obstgarten voll blühender Apfelbäume. Unter den Bäumen stand ein Dutzend Bienenkörbe, um die die Hunde respektvoll einen Bogen machten.
»Stimmt es, dass man den Bienen alles erzählen soll, was so passiert?«, fragte Pippa. »Wenn jemand gestorben ist zum Beispiel.«
Bruder Malcolm nickte. »Ja, das stimmt. Bienen sind Boten des Himmels. Sie tragen alles, was du ihnen sagst, direkt zu Gott.«
Henry hatte fast vergessen, dass sie ja eigentlich auf der Flucht waren. Er fühlte sich sicher und zufrieden. Vielleicht konnte er ja später auch Mönch werden, dachte er. Sicher, Mönche durften nicht heiraten, aber wenn er an die Ehe seiner Eltern dachte, war das vielleicht auch gar keine so schlechte Idee.
Die Hunde hatten die ganze Zeit friedlich herumgeschnüffelt, doch nun fingen sie an, aufgeregt zu bellen, und Li-Chee zitterte am ganzen Körper vor Freude. Die Kinder schauten hoch und sahen, dass der Abt auf sie zukam. Und neben ihm, so selbstverständlich, als wäre es nie anders gewesen: Otto.
Der Abt sprach mit Bruder Malcolm, dann wandte er sich an die Kinder. »Wir möchten euch gern etwas zeigen, das euch vielleicht interessieren könnte.«
Er führte sie zu einem abseits stehenden Gebäude und öffnete die Tür.
Der Boden des Raumes, den sie jetzt betraten, war mit einem dicken Belag aus Stroh bedeckt und in dem Stroh wälzte sich fröhlich quietschend eine Horde Welpen. Durch das Fenster schien die Sonne und ließ das Stroh golden leuchten und golden leuchtete auch das Fell der Welpen. Es waren Golden Retriever mit dunklen Augen und weichen, milchgefüllten Bäuchen.
»Wir züchten Blindenhunde«, erklärte der beleibte Mönch, der sich um sie kümmerte. »Wir behalten sie so lange hier, bis sie alt genug sind, um ausgebildet zu werden. Nicht alle Hunde eignen sich dafür, aber wir haben Erfahrung und sehen schnell, welche von ihnen es sind. Die anderen vermitteln wir in ein gutes Zuhause.«