Die Mädchen liefen an den Kräuterbeeten vorbei in den Obstgarten und dort bot sich ihnen ein ungewohnter Anblick. Der Abt von St. Roc lag rücklings im Gras wie ein gefällter Baum. Und über, neben, auf ihm war Otto, mal leckte er dem Abt übers Gesicht, mal bellte er vor Freude, mal setzte er sich einfach auf ihn drauf.
»Ist alles in Ordnung?«, rief Pippa.
Der Abt antwortete nicht. Er hob nur den Arm ein wenig. Sei es, dass er die Kinder segnen oder grüßen wollte, oder weil es das einzige Körperteil war, das Otto noch nicht mit Beschlag belegt hatte.
Die Mädchen fragten nicht noch einmal. Wenn irgendetwas in Ordnung war, dann hier. Sie drehten sich um und gingen zurück zum Wagen.
Selby, der alte Schafhirte, war dabei, seine Habseligkeiten in den Umzugwagen zu laden. Es waren nicht allzu viele. Sein Zimmer in Rosewood war klein und bereits mit dem Nötigsten ausgestattet. Aber erst einmal hatte er alles, was er nicht mehr brauchte, zu einem Haufen getürmt, den er verbrennen wollte. Nun holte er seinen Hirtenstab und legte ihn als letztes Stück obendrauf. Billy sollte zu einem Bauern aus dem Nachbartal kommen. Unglücklich tappte der alte Hund hinter seinem Herrchen her, in seinen Augen stand Angst und von Zeit zu Zeit hob er den Kopf und heulte.
Und doch war es Billy, der zuerst den fremden Wagen hörte, der auf die Hütte zufuhr. Er spitzte die Ohren, und als die Tür sich öffnete, kläffte er laut.
»Lauf, Honey«, sagte Pippa. »Nur zu, es ist in Ordnung.«
Die Colliehündin sprang aus dem Wagen, kehrte noch einmal kurz zurück und war dann verschwunden.
Pippa folgte ihr und hielt bestürzt inne, als sie den Umzugswagen und das Lagerfeuer sah.
»Ach, herrje«, sagte sie zu dem Hirten. »Sie ziehen aus? Wir hatten gehofft, Honey könnte bei Ihnen bleiben, aber wenn das so ist …«
Der alte Selby beugte sich zu Honey hinunter und kraulte sie zwischen den Ohren.
Dann richtete er sich auf und lächelte. »Nein, ich ziehe nicht aus. Ich bleibe hier, wo ich hingehöre.«
Er ging zu dem Lagerfeuer und zog seinen Stab heraus, dann ging er hinüber zu dem Fahrer des Umzugswagen.
»Ich habe meine Meinung geändert«, sagte Selby. »Sie müssen ohne mich losfahren.«
Der Fahrer sah ihn an und wollte etwas sagen, alte Leute sind oft etwas wirr im Kopf.
Doch dann schaute er den alten Schäfer noch einmal genau an. Als er ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte er ihn für einen Mann gehalten, der dem Tod näher stand als dem Leben, doch plötzlich schien er verändert zu sein. Er sah kein bisschen alt aus. Der Fahrer zuckte mit den Schultern und startete den Motor.
»Komm, Honey«, sagte Selby. »Es wartet eine Menge Arbeit auf uns.« Sie erwischten den Zirkus gerade noch rechtzeitig, bevor er seine Zelte in Todcaster abbrach. Das große Zelt war schon abgebaut, Lkws wurden beladen.
Kaum, dass Mr Naryan den Rolls-Royce angehalten hatte, sprang Francine laut bellend aus dem Wagen. Kayley und Pippa liefen hinter ihr her zu einem der Wohnwagen. Ein schwarzer Schatten stürzte heraus und schon standen Rupert und Francine auf ihren Hinterbeinen und tanzten und drehten sich umeinander und konnten sich vor Freude kaum beruhigen.
Nun erschien im Wohnwagen ein dünner Mann mit Baskenmütze und stellte sich als Petroc vor.
»Das muss die Hündin sein, von der George mir erzählt hat. Francine, nicht wahr?«, fragte er mit einem leichten ausländischen Akzent.
»Ja, das ist sie«, sagte Pippa. »Wir wollten fragen, ob sie bei Ihnen bleiben kann.«
Petroc seufzte. »Schön wär’s. Sie hätte in meiner Nummer ›Petrocs Pudel‹ auftreten können. Es ist die beste Hundenummer der Welt«, sagte er stolz. »Aber so ein Hund ist viel Geld wert und ich bin arm, also kann daraus nichts werden.«
»Wir wollen kein Geld«, sagte Kayley schnell. »Wir wollen nur, dass sie glücklich ist.«
Petroc sah versonnen auf Francine, die sich mit Rupert im Gras wälzte. Sein von Falten zerfurchtes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
»Sie ist jetzt schon glücklich, glaube ich. Jawohl, ich kenne Hunde, und dieser hier ist glücklich, sehr glücklich sogar.«
Doch Francine vergaß nicht, was sich gehörte. Sie gab zuerst Kayley, dann Pippa ihre Pfote, bevor sie Rupert in den Wohnwagen und in ein neues Leben folgte.
Alle Hunde bis auf Li-Chee waren nun fort und der Pekinese wurde unruhig. Als Otto im Kloster geblieben war, hatte er mitleiderregend gewinselt. Nun saß er auf Pippas Schoß und starrte sie ängstlich aus großen Augen an. Wo waren denn alle? Hatte man ihn vergessen?
Auch Kayley und Pippa waren beunruhigt. Die letzte Station konnte sich als Fehlschlag erweisen. Was, wenn Hunde im Waisenhaus nicht erlaubt waren?
Mr Naryan, der unbeirrbar am Steuer saß, sagte wenig, aber er war ein Trost.
»Der Kleine hat ein großes Herz«, sagte er. »Alles wird gut.«
Als sie auf Greystoke House zufuhren, sahen sie, dass der Garten voller Kinder war. Sie hielten an und Li-Chee hüpfte ins Freie. Sogleich löste sich aus der Gruppe von Kindern ein Mädchen und sauste auf den kleinen Hund zu.
»Li-Chee!«, rief Nini. Diesmal kniete sie nicht vor ihm, sondern schloss ihn in die Arme.
Mick kam zu Pippa und die gab ihm den Brief, den Henry an ihn geschrieben hatte.
»Wir haben es geschafft und wollen dir und deinen Freunden danken«, sagte Pippa.
»Es war nicht der Rede wert«, wehrte Mick bescheiden ab. »Seit ihr hier wart, ist Nini völlig verändert. Sie spricht jetzt und sie hat auch keine Wutanfälle mehr. Es ist ein Wunder.«
Doch der schwierigste Teil stand ihnen noch bevor. Mick nahm sie mit in Mrs Platts Büro. Sie durften sich nicht verraten, denn die Heimleiterin wusste nichts von der Nacht im Heizungskeller.
Daher sagte Pippa nur, dass sie nach einem Zuhause für den Pekinesen suchen würden.
»Und uns ist eingefallen, dass Nini ihn so sehr mochte, als sie im Zirkus war. Aber vielleicht sind Tiere hier im Heim verboten?«
Mrs Platt sagte, nein, das wären sie nicht. Im Gegenteil, sie hätte schon überlegt, einen Hund anzuschaffen.
»Vor ein paar Tagen tauchte hier ein sehr merkwürdiger Typ in einem weißen Lieferwagen auf«, erzählte sie. »Hockte da stundenlang und hat die Kinder beobachtet. Ein Hund hätte ihn bestimmt vertrieben.«
Dann ging sie zum Fenster und sah Nini, die Li-Chee auf dem Schoß hatte. »Aber du meine Güte, ein Wachhund ist der ja nun gerade nicht. Sieht eher wie eine gerupfte Ratte aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass …«
Sie brach ab. Li-Chee fing an aus Leibeskräften zu bellen und stürzte zum Gartentor.
»Das ist der Zeitungsjunge«, sagte Mrs Platt. »Nun, ich habe ihm anscheinend unrecht getan, er scheint ja doch ein ganz brauchbarer Wachhund zu sein.«
»Pekinesen sind ganz erstaunliche Hunde«, sagte Kayley. »Sie wurden gezüchtet, um Kaiser zu beschützen und Alarm zu schlagen.«
»Ach ja?«, sagte Mrs Platt und sah, wie der Zeitungsjunge die Zeitung über den Zaun warf und so schnell wie möglich davonrannte. »Nun, ich denke, er kann bleiben.«
Das Letzte, was Kayley und Pippa sahen, als sie davonfuhren, war Li-Chee, wie er zwischen Nini auf der einen und Mick auf der anderen Seite mit hoch erhobenem Kopf auf den Treppenstufen thronte.
Genauso hatten seine Vorfahren dagesessen und den kaiserlichen Palast bewacht und so saß nun Li-Chee da und bewachte Greystoke House.
24. Kapitel
Albina kriecht zu Kreuze
Albina hockte auf allen vieren auf dem Boden und gab seltsame Geräusche von sich. Sie gurrte, sie lockte, sie bettelte. Der Boden, auf dem sie da kauerte, war nicht der teppichbedeckte ihres Londoner Hauses, sondern der raue Dielenboden des Hauses am Meer.
»Bitte, Fleck, bitte! Es tut mir leid. Ich hab’s nicht so gemeint. Bitte komm raus und lass uns Freunde sein.«