Geary schüttelte den Kopf. »So schwere Verluste?«
»Schwere Verluste?«, wiederholte Desjani und zögerte kurz. »Wir haben im Verlauf des Krieges zahlreiche Schiffe verloren, aber die Verluste der Syndiks waren größer«, fügte sie noch schnell hinzu.
»Ich hatte mich bereits gewundert, warum so viele der Captains so jung sind.«
»Wir… können uns nicht immer den Luxus leisten, Offizieren eine lange Karriere zu ermöglichen, bevor sie das Kommando über ein Schiff übernehmen müssen.«
»Ich verstehe«, erklärte Geary, obwohl er es eigentlich gar nicht verstand. All diese jungen Captains, die neuen Schiffe… einen Moment spürte er wieder das Eis in seinem Inneren, als ihm bewusst wurde, dass sämtliche Schiffe, mit deren Daten er sich beschäftigt hatte, neu oder zumindest fast neu waren. Er war davon ausgegangen, dass man ältere Schiffe nicht mitgenommen hatte, da sie technisch nicht auf dem aktuellen Stand waren. Jetzt allerdings begann er sich zu fragen, wie viele ältere Schiffe es überhaupt noch gab und wie hoch in diesem Krieg inzwischen die durchschnittliche Lebens-erwartung eines Crewmitglieds war.
Captain Desjani führte noch weiter aus, als verspüre sie das Be-dürfnis, die Situation persönlich zu rechtfertigen. »Die Verluste waren nicht durchgehend so schwer, aber phasenweise haben wir schon sehr viele Schiffe verloren. Ein Jahrhundert Krieg kostet viele Schiffe und noch mehr Menschenleben.« Sie wirkte wütend und müde zugleich. »Zu viele Menschenleben. Admiral Bloch hatte zwei Senioradjutanten. Vermutlich haben Sie nicht mitbekommen, dass sie mit ihm und Admiral Blochs Stabschef an Bord des Shuttles gegangen sind, das zum Flaggschiff der Syndiks flog.«
»Nein.« Aber zu dem Zeitpunkt habe ich ohnehin kaum etwas mitbekommen.
»Natürlich sind sie jetzt alle tot. Es gibt noch ein paar Junioroffizie-re, die dem Stab zugeteilt waren, aber sie gehörten in erster Linie zu meiner Crew und hatten zuallererst Aufgaben an Bord der Dauntless zu erledigen.«
»Ich nehme an, diese Leute werden anderweitig benötigt.«
»Ja, allerdings ist einer von ihnen tot und ein anderer so schwer-verletzt, dass er die Krankenstation nicht verlassen kann. Die beiden restlichen würde ich gerne auf ihren momentanen Posten belassen und…«
Geary hob eine Hand, um Desjani zu unterbrechen. »Selbstverständlich. Ich werde mich mit ihnen unterhalten, wenn die Umstän-de es zulassen. Könnten Sie mir nur verraten, wie Admiral Bloch mit einem so kleinen Stab eine ganze Flotte geführt hat?«
Sie verzog das Gesicht. »Indem er nur tat, was unbedingt nötig war, und den Rest seinen Kommandanten überließ, würde ich sagen. Außerdem stehen Ihnen sehr leistungsfähige Systeme zur Verfügung, die wirklich effizient arbeiten.« Sie sah auf die Uhr und er-schrak. »Mit Ihrer Erlaubnis, Captain Geary, möchte ich jetzt auf die Brücke zurückkehren. Es ist dringend.«
»Erlaubnis erteilt.« Desjani stürmte bereits davon, während Gearys Arm noch zuckte, da er damit gerechnet hatte, ihren Salut zu erwidern, der aber nie gekommen war. Werde ich mich daran gewöhnen müssen, oder werde ich etwas daran ändern müssen, wie die Dinge hier laufen? Er sah zu dem Marine, der nach wie vor neben der Tür zum Konferenzraum stand. »Danke.« Der Marine reagierte mit einem präzisen Salut, den Geary prompt erwiderte.
Er wollte Desjani folgen, da er wusste, dass er sich besser auch auf der Brücke aufhalten sollte. Doch mit einem Mal wurden seine Beine kraftlos, und Geary musste sich am Schott abstützen. Erst als er das Gefühl hatte, das Gleichgewicht wieder wahren zu können, kehrte er in gemächlichem Tempo zu seiner Kabine zurück.
Dort ließ er sich erleichtert und angestrengt atmend in den Sessel sinken. Ich kann mir so etwas jetzt nicht leisten. Es gibt zu vieles, das getan werden muss. Er griff in eine Schublade und nahm ein MedPack heraus, das alles enthielt, was ihm nach Ansicht der Flottenärzte half, sich auf den Beinen zu halten. Sie haben gesagt, dass dieses Zeugs meine geistigen Fähigkeiten nicht beeinträchtigt. Aber wenn doch? Bloß wenn ich es nicht nehme, kann ich meinen Job schon gar nicht erledigen.
Ich muss mich unbedingt von Situationen fernhalten, in denen sämtliche Optionen potentiell schlecht sind.
Er drückte das MedPack auf seinen Arm und verspürte das leichte Kribbeln, das ihm verriet, dass es seine Aufgabe erledigte. Ein paar Momente würden vergehen, bevor er die Wirkung spüren könnte, also nutzte er die Zeit, indem er die unterstützenden Systeme auf-rief, von denen Desjani gesprochen hatte.
Kaum hatte er damit begonnen, sah er, dass eine Nachricht von Commander Cresida von der Furious eingegangen war. Enthalten war der Plan, von dem sie gesprochen hatte, um die Flotte in eine bessere Position zu bringen, damit die Flucht zum Sprungpunkt weniger Zeit in Anspruch nahm. Geary studierte diesen Plan so gründlich er konnte. Dabei spürte er den Zeitdruck, der auf ihm lastete.
Keine halbe Stunde mehr, dann war das Ultimatum der Syndiks abgelaufen. Vielleicht sogar noch weniger, wenn sie gelogen hatten, wie viel Zeit sie den Allianz-Captains geben wollten, um sich zu entscheiden. Sobald alle Allianz-Schiffe ihre neue Position eingenommen hatten – oder sobald die Syndiks sich in Bewegung setzten –, würde der Codename Ouvertüre das Signal sein, um die Flotte in Richtung Sprungpunkt zurückzuziehen.
Frustriert überflog er die Schiffsnamen und wünschte, er wüsste mehr über die jeweilige Manövrierfähigkeit und Feuerkraft jedes einzelnen Schiffs. Numos hat recht, dass mein Wissen seit Langem überholt ist. Aber meine Vorfahren wissen, dass ich trotzdem ein besserer Kommandeur bin, als er es je sein wird. Und wie er ganz richtig zu Numos gesagt hatte, kam es jetzt darauf an, zu handeln anstatt abzuwarten. Von einem leisen Stoßgebet begleitet stimmte er dem Plan zu und kennzeichnete ihn, damit er an die ganze Flotte übermittelt wurde.
Als er aufzustehen versuchte, verspürte er immer noch eine gewisse Schwäche und Unsicherheit, sodass er sich wieder hinsetzte und sich dazu zwang, noch ein paar Minuten zu warten. Er widmete sich erneut den statistischen Angaben der Flotte und begann, sich so viel Wissen über die Schiffe anzueignen, wie es ihm in der kurzen Zeit möglich war. Wie bereits erwartet, handelte es sich durchweg um neue oder fast neue Schiffe. Wenn das Durchschnittsalter dieser Schiffe das bedeutete, was er glaubte, dann musste dieser Krieg eine ungeheure Zahl an Opfern gefordert haben.
Der Verlust eines Schiffs bedeutete nicht zwangsläufig, dass auch der Tod der gesamten Crew zu beklagen war, doch es kamen noch immer zu viele Besatzungsmitglieder ums Leben.
Geary starrte auf die raue Kante an seinem Schreibtisch, und jetzt endlich wurde ihm klar, was sie zu bedeuten hatte. Die Schiffe wurden so schnell wie möglich montiert, um die Schiffe zu ersetzen, die in den verschiedenen Schlachten zerstört wurden. Offiziere und Matrosen wurden durch die Ausbildung gehetzt, damit sie diese Schiffe bemannen konnten, dann folgten rasche Beförderungen bis hinauf zum Captain, um gefallene Kameraden zu ersetzen. Man schickte unerfahrene Besatzungen mit hastig zusammengebauten Schiffen ins Gefecht, wo man schwere Verluste hinnehmen musste und die Besatzungen starben, bevor sie eine Chance hatten, Erfahrungen zu sammeln und zu überleben.
Seit wann war die Flotte schon in dieser Todesspirale gefangen?
Kein Wunder, dass sie das Salutieren verlernt haben. Und dass sie vergessen haben, wie eine Flotte befehligt werden sollte: Sie sind allesamt Amateure. Amateure, denen man das Leben ihrer Kameraden und das Schicksal der Allianz in die Hände gelegt hat. Bin ich in der gesamten Rotte etwa der Einzige, der noch über eine Ausbildung und über Erfahrung verfügt?
Was ist mit all den Schiffen und Menschen passiert, die ich kannte? Sind sie alle dem Feind zum Opfer gefallen, während ich schlief?