Nein, darüber wollte Geary lieber nicht nachdenken. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Daten vor ihm, die er schnell genug durchging, um sich voll und ganz darauf konzentrieren zu müssen.
Plötzlich stutzte er, weil er das Gefühl hatte, etwas übersehen zu haben. Aufmerksam blätterte er zurück. Da war es: Allianz-Schlachtkreuzer Repulse, befehlshabender Offizier Michael J. Geary. Mein Bruder hieß Michael. Aber er muss schon lange tot sein, und ich wüsste nicht, dass er je in den Flottendienst gegangen wäre. Jedenfalls nicht, bevor ich ein Jahrhundert verschlafen habe.
Habe ich Zeit, mich damit zu beschäftigen? Wir dürften wohl in ein Gefecht verwickelt werden, und wenn etwas geschieht, dann werde ich es vielleicht nie erfahren. Geary zögerte, dann tippte er den Code ein, um mit dem Befehlshaber der Repulse verbunden zu werden. Es dauerte einen Moment, dann tauchte ein beängstigend vertraut aussehendes Gesicht vor ihm auf. »Ja, Sir?«
Weder der Tonfall noch der Gesichtsausdruck des Mannes hatten etwas Freundliches an sich, dennoch musste Geary ihn fragen. »Verzeihen Sie, Commander Geary, aber ich würde gern wissen, ob wir verwandt sind.«
Der Mann verzog keine Miene. »Ja.«
»Und wie? Sind Sie…«
»Mein Großvater war Ihr Bruder.«
Das Eis drohte ihn wieder einzuverleiben. Sein Bruder. Ein paar Jahre jünger als er selbst. Geary schaute in ein Gesicht, in dem sich das Erbe erkennen ließ, das von seinem Bruder auf dessen Enkel übergegangen war. Mit einem Mal kam ihm der Verlust seiner eigenen Zeit schier unerträglich vor – und das lag nicht nur daran, dass der Kommandant der Repulse einige Jahre älter zu sein schien als Geary selbst, wenn man die hundert Jahre im Kälteschlaf unberücksichtigt ließ. Sein Großneffe hatte es geschafft, älter zu werden als viele andere in dieser Flotte, doch er machte nicht den Eindruck, dass ihn das freute. »Was…« Geary sah kurz zur Seite und musste tief durchatmen, ehe er weiterreden konnte. »Tut mir leid. Ich weiß gar nichts über Sie und… und… meinen Bruder. Was wurde aus ihm?«
»Er lebte und ist gestorben«, gab sein Großneffe ungerührt zurück.
Etwas an diesem feindseligen Tonfall ließ Gearys Temperament hochkochen. »Das ist mir auch klar. Er war schließlich mein Bruder, Sie kaltherziger Bastard!«
»Benötigen Sie sonst noch etwas, Sir?«
Geary musterte den Mann und sah, dass die Falten nicht nur die Folge des Alters, sondern auch intensiver Gefühle waren. Sein Großneffe musste einige Jahrzehnte älter sein als er, und die Zeit war mit ihm nicht gnädig gewesen. »Ja, ich benötige noch etwas. Nämlich eine Antwort auf die Frage, was um alles in der Welt ich Ihnen eigentlich getan habe.«
Der andere Mann lächelte daraufhin, jedoch ohne einen Funken Humor. »Sie? Gar nichts. Weder mir, noch meinem Vater oder meinem Großvater. Großvater sagte immer, er hätte alles dafür gegeben, Sie zurückzubekommen, andererseits hat er im Glanz von Black Jack Geary gelebt, dem Helden der Allianz, nicht in dessen Schatten.«
Ihm entging nicht die Art und Weise, wie der Kommandant der Repulse diese Worte aussprach. »Das bin nicht ich«, erwiderte Geary.
»Nein, denn Sie sind ein Mensch. Das war mir auch klar. Aber für den Rest der Allianz waren Sie kein Mensch, sondern der perfekte Held, das strahlende Vorbild für die gesamte Jugend der Allianz.«
Commander Michael Geary beugte sich über seinen Bildschirm. »Jeder Tag meines Lebens wurde an den Leistungen von Black Jack Geary gemessen. Können Sie sich vorstellen, was das für mich bedeutete?«
Er konnte es sich vorstellen, nachdem er die Blicke der Menschen gesehen hatte, denen er bislang begegnet war. »Und warum sind Sie dann zur Navy gegangen?«
»Weil ich es musste. So wie mein Vater. Wir sind Gearys, das ist Grund genug.«
Er kniff die Augen zusammen und presste die Hände gegen den Kopf. Ich muss erst seit ein paar Wochen mit dem Bild zurechtkommen, das die Leute von mir haben. Aber ein ganzes Leben in diesem Schatten zu verbringen… »Es tut mir sehr leid.«
»Sie haben mir nichts getan«, wiederholte sein Großneffe.
»Und warum ist es dann so offensichtlich, dass Sie mich hassen?«
»Es ist nicht leicht, mit einer lebenslangen Gewohnheit zu brechen.«
Ich möchte etwas über meinen Bruder erfahren, ich möchte wissen, was aus seinen Kindern geworden ist. Ich möchte alles erfahren, was meine anderen Freunde und Verwandten betrifft. Aber ich kann darüber nicht mit jemandem reden, der mich sein Leben lang gehasst hat und der mir diesen Hass so offen zeigt. »Zum Teufel mit Ihnen.«
»Da war ich schon.«
Geary wollte die Verbindung unterbrechen, doch dann warf er seinem Großneffen einen eisigen Blick zu. »Sehen Sie sich dazu in der Lage, meine Befehle nach bestem Können auszuführen?«
»O ja, dazu bin ich in der Lage.«
»Wenn ich sehe, dass Sie sich störrisch benehmen oder durch Ihr Handeln in irgendeiner Weise andere Schiffe in Gefahr bringen, werde ich Sie auf der Stelle Ihres Postens entheben. Haben Sie verstanden? Ob Sie mich hassen, ist mir dabei gleich.« Das war gelogen, und zweifellos wusste sein Gegenüber das auch, dennoch musste es gesagt werden. »Aber ich werde kein Verhalten tolerieren, das Schiffe oder Menschenleben gefährdet.«
Der andere Geary verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.
»Ich versichere Ihnen, ich werde jeden Ihrer Befehle ausführen, als wäre Black Jack Geary höchstpersönlich mein Vorgesetzter.«
»Sagen Sie mir, dass das keine Redewendung ist.«
»Es ist eine Redewendung.«
»Ich weiß nicht, ob ich Sie jetzt noch mal zum Teufel schicken oder ob ich mich lieber erschießen soll.«
Das Lächeln wurde breiter. »Sie können es auch nicht ausstehen, wie?«
»Natürlich nicht.«
»Dann kann ich Ihnen vielleicht um Großvaters willen doch noch alles Gute wünschen. Es ist schwer, und vielleicht sogar noch schwerer, wenn ich sehe, dass Sie jünger sind als ich, doch von nun an werden Sie auch mit Black Jack Geary leben müssen.«
»Sie erwarten, dass ich versagen werde, richtig?«
»Scheitern ist ein relativer Begriff. Ich musste in meinem Leben ziemlich hohen Erwartungen gerecht werden, aber in Sie wird man noch viel höhere Erwartungen setzen.«
Geary nickte, was sowohl an ihn selbst als auch an seinen alten, verbitterten Großneffen gerichtet war. »Und Sie werden danebenste-hen und zusehen, wie es mir nicht gelingt, die Erwartungen zu er-füllen, die man in einen Halbgott gesetzt hat. Das ist wohl nur gerecht. Ich habe noch zu arbeiten, und Sie ebenfalls.«
»Ja, Sir. Bitte um Erlaubnis, meine Arbeit wiederaufzunehmen.
Wie Sie sicherlich wissen, wurde die Repulse im Gefecht schwer beschädigt.«
Nein, das wusste ich nicht. Ich muss in zu kurzer Zeit zu viel lernen.
»Natürlich, Commander.« Geary unterbrach die Verbindung, dann saß er einen Moment lang da und sah auf den dunklen Monitor, ehe er wieder aufzustehen versuchte. Sein linkes Bein zitterte ein wenig, woraufhin er die Faust ballte und sich so fest auf den Oberschenkel schlug, dass er wohl einen blauen Fleck davontragen würde. Dann machte er sich auf den Weg zur Brücke der Dauntless, dankbar für die kleine Ablenkung, für die der anhaltende Schmerz in seinem Bein sorgte.
Die Matrosen, die die Gänge der Dauntless unmittelbar nach dem Gefecht bevölkerten, hatten sich inzwischen zum Teil an jene Orte zurückgezogen, an denen sie benötigt wurden, um das zu tun, was getan werden musste. Die noch verbliebenen Matrosen machten Geary wieder sofort Platz, doch etwas war anders an der Art, in der sie ihn ansahen. Ihre Gesichter spiegelten nicht nur die unerwünschte Ehrfurcht und Hoffnung wider, sondern auch eine gestärkte Zuversicht. Ob diese Zuversicht ihren eigenen oder Gearys Fähigkeiten galt, war nicht wichtig. Aber nun war er ihr Befehlshaber, und er musste jetzt in diese Gesichter blicken, wobei er versuchte, die gleiche Zuversicht auszustrahlen.