Die halbkreisförmige Brücke war nicht allzu groß geraten, doch gerade auf Kriegsschiffen ergaben großzügig gestaltete Räume keinen Sinn. Der Platz des Captains, der üblicherweise den Mittelpunkt einer jeden Brücke darstellte, war an den Rand gerückt, und gleich daneben hatte man einen weiteren Sessel im Boden verankert, dessen Rückenlehne mit der geprägten Flagge des Flottenkommandan-ten versehen worden war. Captain Desjani saß angegurtet auf ihrem Platz und betrachtete aufmerksam die virtuellen Anzeigen, die vor ihr in der Luft schwebten, während sie hin und wieder einen Befehl erteilte oder eine Frage an einen Offizier oder Unteroffizier richtete, die an den verschiedenen Stationen der halbrunden Brücke vor dem Captain ihren Dienst verrichteten. Sekundenlang ließ Geary diese Szene auf sich wirken, die mit ihren vertrauten Navy-Ritualen einen willkommenen Trost spendete.
Dann bemerkte ein Wachhabender ihn und gab Captain Desjani ein Zeichen, woraufhin sie sich zu ihm umdrehte und ihm kurz zu-nickte, ehe sie sich wieder der Überwachung der Reparaturen und der Vorbereitung auf das zu erwartende nächste Gefecht widmete.
Geary ging mit steifen Schritten zum Platz des Admirals und blieb kurz stehen, um mit den Fingern über die Prägung der Flagge zu streichen. Auf eine unerklärliche Weise kam es ihm wie ein unum-kehrbarer Schritt vor, wenn er in diesem Sessel Platz nähme. Von dem Moment an würde er tatsächlich aktiv die Flotte befehligen. Es war ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, sich daran zu erinnern, dass sein bislang verantwortungsvollstes Kommando eine aus drei Schiffen bestehende Eskorte gewesen war.
Er nahm Platz und sah sich um, während er versuchte, sich an die neue Rolle zu gewöhnen. »Captain Desjani, ist Co-Präsidentin Rione bereits an Bord gekommen?«
Desjani warf ihm einen bewusst neutralen Blick zu und antwortete: »Ja, jedenfalls wurde mir das so mitgeteilt. Ihr Shuttle hat vor wenigen Minuten angedockt.«
Geary sah auf die Uhr. »Es muss ihr gelungen sein, etwas Zeit zu schinden. Das Ultimatum der Syndiks ist vor über zehn Minuten abgelaufen.«
»Kann sein.« Desjani beugte sich zu ihm herüber und senkte ihre Stimme: »Wie viel weiß Rione? Über die Dauntless, meine ich.«
»Zu viel«, gab Geary zurück und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
»Möglicherweise hat Admiral Bloch ihr einiges erzählt«, gab sie zu bedenken.
Daran hatte er noch gar nicht gedacht, aber es war durchaus anzunehmen, dass Rione Bloch die gleichen Forderungen gestellt hatte wie ihm und dass sie längst wusste, wo sich der Schlüssel befand.
Aber warum fragt sie mich dann auch noch? Vielleicht wollte sie feststellen, wie ehrlich ich bin. Ich schätze, die Prüfung habe ich bestanden. »Wenigstens hat sie sich nicht zu uns auf die Brücke gesellt.«
»Ganz sicher redet sie immer noch«, meinte Desjani todernst.
Unwillkürlich musste Geary grinsen, wurde dennoch gleich wieder ernst und rief seine Anzeigen auf. Ein Display schwebte gleich vor ihm auf Augenhöhe und zeigte die aktuelle Situation.
Die Syndik-Schiffe hatten alle ihre Position gehalten, während Geschwindigkeits-und Richtungsvektoren erkennen ließen, dass ein Großteil der Allianz-Schiffe in Bewegung war. Die langsameren Schiffe näherten sich dabei dem Sprungpunkt, während andere, schnellere Schiffe in die entgegengesetzte Richtung flogen, um über die wahren Absichten der Flotte hinwegzutäuschen. So viele Schiffe in dieser Flotte… Wenn ich mich zu sehr auf einen Bereich konzentriere, verliere ich das Gesamtbild aus den Augen. Sein Blick wanderte zur Formation der feindlichen Flotte, und sein Magen verkrampfte sich.
Und so viele Syndik-Schiffe. Was, wenn sie schneller oder wir langsamer als erwartet sind? Oder wenn jemandem ein Fehler unterläuft?
Was, wenn ich dieser Jemand bin?
Er musterte die Anzeigen, dann versuchte er Daten über die Allianz-Schiffe aufzurufen, doch angezeigt wurden ihm stattdessen die Personalakten aller Offiziere der Flotte. Mit einem verärgerten Murmeln versuchte er einen anderen Befehl. Diesmal bekam er statistische Werte für alle Schiffsklassen. Auch nicht das Gewünschte, aber schon brauchbarer. Wenn ihm jetzt noch ein paar Minuten blieben, um mehr über diese Schiffe zu erfahren und sich ein Bild davon zu machen, inwieweit sie sich von den Typen unterschieden, mit denen er vertraut gewesen war… »Ich suche Angaben zu den Schiffen«, wandte er sich an Desjani. »Die meisten Waffensysteme erkenne ich wieder.«
Sie erteilte einem ihrer Untergebenen einen knappen Befehl, dann nickte sie Geary zu. »Ja, an der Grundkonzeption der meisten Waffen hat sich nicht viel geändert, auch wenn ihre Leistungsfähigkeit deutlich erhöht werden konnte. Wir setzen Höllenspeere immer noch als primäre Waffe ein, aber deren geladene ›Partikelspeere‹ sind schneller, besitzen eine größere Reichweite und weisen eine höhere Ladung auf. Außerdem lassen sich die Werfer viel schneller aufladen als bei Ihrem letzten Schiff.«
»Und Kartätschen setzen Sie auch immer noch ein.«
»Selbstverständlich. Das ist eine simple und tödliche Waffe. Die Werfer können die Salven mit höherer Geschwindigkeit abfeuern als zu Ihrer Zeit, und die verbesserte Zielerfassung erlaubt uns eine etwas größere Reichweite bei den Kartätschen. Trotzdem ist das nach wie vor eine Waffe, die sich eher für den Nahkampf eignet, denn wenn die Strukturen sich erst einmal zu großflächig verteilt haben, schwinden die Chancen, die Verteidigung des Feindes zu überwinden oder zumindest nennenswert zu schwächen.«
»Was ist ein Phantom?«
»Im Wesentlichen eine verbesserte Version der Flugkörper, wie Sie sie kennen.«
»Reden Sie von Geistern?«
»Ja. Ein Phantom ist vom Prinzip her ein autonomer Flugkörper, ganz so wie die alten Geister. Aber ein Phantom kann besser manövrieren und ist mit mehreren Sprengköpfen bestückt, um bessere Chancen zu haben, Schutzschilde zu durchdringen und ein Loch in den Rumpf zu reißen. Außerdem ist ein Phantom besser in der Lage, aktive Verteidigungsmethoden des Feindes zu überleben.« Sie machte eine Geste von sich fort. »Auch die Möglichkeiten der Verteidigung wurden verbessert. Schilde sind leistungsfähiger, sie bauen sich schneller wieder auf und können sich schneller anpassen.
Zudem ist der Schiffsrumpf so angepasst worden, dass er mehr Widerstand bietet.«
Also hatten sich die Waffensysteme nicht radikal verändert. Für größere Reichweiten wurden noch immer Flugkörper verwendet, und bei geringeren Reichweiten kamen Höllenspeere und Kartätschen zum Einsatz. Schwerere Geschütze, die aber auch gegen eine verbesserte Abwehr antreten mussten. »Was ist dieses…«
»Captain?« Geary und Desjani drehten sich beide zu dem Matrosen um, der soeben gesprochen hatte. Nach ein paar Sekunden wurde Geary klar, dass er gar nicht gemeint war, während der Matrose sich seinerseits erkennbar verunsichert fühlte, wem von den beiden er Meldung machen sollte. »Die Syndik-Flotte übermittelt an einzelne Schiffe die Aufforderung, sich zu ergeben.«
Geary kämpfte gegen das Gefühl an, das Gesicht zu verziehen, da er sich nur zu gut der Tatsache bewusst war, dass er von allen aufmerksam beobachtet wurde, denn jeder wollte seine Reaktion sehen.
Riones Bemühungen waren offenbar an ihre Grenzen gestoßen. Er fragte sich, ob beharrliches Schweigen die Syndiks dazu veranlassen würde, ihre Forderung zu wiederholen und auf diese Weise weitere Zeit zu vergeuden. »Captain Desjani, ich wäre Ihnen für eine Einschätzung dankbar, was passieren wird, wenn wir einfach nicht reagieren.«