Sie versteifte sich, und Geary hätten schwören können, dass sich Eis in ihren Augen bildete. »Voss! Sie wollen zurück ins Heimatsystem der Syndiks und dann den nächsten Sprung machen, weil Sie hoffen, deren Verteidigung überrumpeln zu können und…«
Geary hielt abwehrend die Hände hoch. »Nein.«
»Nein?« Rione machte einen Schritt zur Seite, als wolle sie ihn um-kreisen, um ihn von allen Seiten misstrauisch zu betrachten.
»Nein. Vielleicht würde ich das machen, wenn wir in einer perfekten Welt lebten.« In einer perfekten Welt, in der wir gar nicht erst einen Krieg führen würden, der bereits hundert Jahre auf dem Buckel hat. »Aber ich kann die Schadensberichte unserer Schiffe lesen, und ich kann zusammenrechnen, wie viele Waffen wir abgefeuert haben und in welcher Verfassung sich unsere Bestände befinden. Und genau kann ich einschätzen, inwieweit diese Flotte in der Lage ist, eine weitere große Schlacht auszutragen.« Geary schüttelte den Kopf. »Es wäre Wahnsinn, ein solches Risiko einzugehen.«
»Das sehe ich auch so«, stimmte Rione ihm zurückhaltend zu, als rechne sie noch immer damit, Geary könnte sie in eine Falle laufen lassen.
»Aber die Syndiks müssen diese Möglichkeit trotz allem in Erwägung ziehen, nicht wahr? Das heißt, sie müssen eine Blockade bei Voss einrichten, und die Verstärkung für ihr Heimatsystem muss in der Nähe bleiben. Alles nur für den Fall, dass ich verrückt bin«, füg-te er ironisch an. »Umso geringer ist die Zahl der Schiffe, die uns weiter verfolgen kann.«
»Also springen Sie doch nach Yuon?«
»Nein. Ich will nach Kaliban.«
»Kaliban?« Sie sah zwischen ihm und der Darstellung der Sternensysteme hin und her. »Was hat uns Kaliban zu bieten?«
»Zeit und das größtmögliche Maß an Sicherheit.« Er hob wieder seine Hand, um den nächsten Einwand vorzeitig zu stoppen. »Ich weiß, die Zeit ist auch unser Feind. Aber dort haben wir mehr Zeit, damit die Flotte sich erholen kann. Unsere Hilfsschiffe produzieren in diesem Moment weitere Waffen, Kartätschen und Phantome, und bei Corvus nehmen wir hoffentlich Rohstoffe für weitere Waffen an Bord. Wir können mehr Schäden reparieren. Ja, wenn wir Kaliban erreichen, müssen wir quasi zu Fuß nach Hause gehen. Und wir werden dringend unsere Vorräte aufstocken müssen, also ist es nötig, dass wir dort genug von allem Benötigten auftreiben können.
Aber wir haben zwei gute Sterne, einen brauchbaren und einen ris-kanten Stern für den darauf folgenden Sprung zur Auswahl. Für die Syndiks bedeutet das, an vier weiteren Orten mit unserem Auftauchen rechnen zu müssen, vorausgesetzt, sie haben bis dahin unsere Flotte ausfindig gemacht.«
Rione schaute nachdenklich drein, als sie nickte. »Und was ist mit diesem gewissen Grad an Sicherheit?«
Abermals zeigte er auf die Sterne. »Wir wurden ordentlich verprügelt, und die Syndiks sind uns zahlenmäßig weit überlegen. Aber ihre Flotte verfügt auch nicht über unendlich viele Schiffe. Je mehr sie sich aufteilen müssen, um uns zu fassen zu bekommen, umso besser sind unsere Chancen, wenn wir doch irgendwo auf sie treffen. Hier«, er zeigte auf Yuon, »müssen die Syndiks genügend Schiffe aufstellen, damit sie uns massiv unter Beschuss nehmen können, wenn wir dieses System durchfliegen wollen. Aber genauso müssen sie Voss beschützen, falls wir dort auftauchen sollten. Und sie müssen versuchen, uns weiter unter Druck zu setzen, weshalb eine große Streitmacht uns durch Corvus folgen muss.«
»Ich verstehe. Damit bleibt nur noch wenig für Kaliban übrig. Falls Sie recht haben. Nur wie sicher können Sie sein, dass die Syndiks unsere Flucht nach Kaliban nicht in Erwägung ziehen werden?«
»Oh, ich glaube schon, dass sie das erwägen werden«, berichtigte Geary sie. »Meiner Meinung nach werden sie Kaliban für das un-wahrscheinlichste unserer möglichen Ziele halten, und es ist für sie auch nicht so gravierend, ganz im Gegensatz zu Yuon und Voss.
Diese beiden Sterne würden für die Syndiks ein unmittelbares Problem darstellen. Wenn wir den Sprung nach Kaliban tun, sind wir für sie zwar immer noch ein Problem, aber in diesem Fall werden sie glauben, dass sie genug Zeit haben, um sich mit uns zu befassen.«
Er betrachtete den Stern, der Kaliban darstellte. Ich wüsste nur zu gern, worüber die Syndiks bei Kaliban verfügen. Die wenigen Informationen, die wir besitzen, sind über ein halbes Jahrhundert alt. Und erst recht möchte ich wissen, über was sie bei Corvus verfügen.
»Warum erklären Sie mir das alles?«
»Ich sagte bereits, ich möchte Ihre Meinung hören.«
»Für mich hört sich das an, als hätten Sie Ihren Entschluss längst gefasst.«
Er gab sich Mühe, nicht verärgert zu klingen. »Keineswegs. Ich versuche, einen Plan zu entwickeln, und ich gehe unsere Optionen durch. Sie sehen die Dinge aus einer anderen Perspektive, daher ist mir Ihre Meinung wichtig.«
Einen Moment lang hätte er schwören können, dass Rione einen Anflug von Belustigung erkennen ließ. »Dann werde ich sagen, dass ich nach Yuon reisen würde.«
»So, so…«
»Ich war noch nicht fertig. Ich würde nach Yuon reisen. Aber es stimmt, was Sie gesagt haben, und ich selbst habe Sie vor einer großen Konfrontation gewarnt. Inzwischen glaube ich, Kaliban ist die beste Lösung.«
Er lächelte sie ironisch an. »Dann darf ich annehmen, dass die Schiffe der Callas-Republik und der Rift-Föderation meinen Befehl befolgen und den Sprung nach Kaliban mitmachen werden?«
»Ja, Captain Geary.« Sie wurde ernster. »Den Rest der Allianz-Flotte davon zu überzeugen, ist allerdings eine Aufgabe, der Sie sich allein stellen müssen.«
Sie hält das für ein Problem. Das war mir bislang nicht in den Sinn gekommen. Die Flotte ist mir aus dem Heimatsystem der Syndiks gefolgt, aber da hatten sich die Commander einer tödlichen Bedrohung gegenüber-gesehen. Und selbst da wollten einige von ihnen erst noch über den Befehl diskutieren.
Und sie sind alle müde und wollen nur noch nach Hause zurück.
Rione schien sich einmal mehr mit der Sternenlandschaft zu beschäftigen. »Ich muss mit Bedauern feststellen, dass ich wenig über Ihr Privatleben weiß, Captain Geary. Haben Sie damals jemanden hinterlassen?«
Er dachte über die Frage nach. »Kommt drauf an, wie Sie das meinen. Meine Eltern lebten noch, mein Bruder war verheiratet, hatte aber noch keine Kinder.« Eigenartig, dass er das so sagen konnte und er gleichzeitig in der Lage war, das gefühlsmäßig von dem Bild des älteren Mannes zu trennen, der der Enkel seines Bruders gewesen war.
»Keine Lebensgefährtin?«
»Nein.« Ihm fiel auf, wie sie ihn ansah, und er musste sich wundern, wie eine einsilbige Antwort ihr so viel verraten konnte.
»Nichts Dauerhaftes.«
»Vielleicht ein Segen?«
»Angesichts dessen, was mir zugestoßen ist, ganz sicher.« Geary schüttelte den Kopf. »Ich hatte immer gedacht, dass man inzwischen herausgefunden hat, wie sich die Lebensspanne verlängern lässt.«
»Leider nicht.« Dem Anschein nach betrachtete sie immer noch die Sternenlandschaft. »Sie wissen, was bei jedem Versuch herausge-kommen ist. Die Natur sorgt dafür, dass wir Menschen bis kurz vor dem Ende gesund und bei Kräften bleiben, aber das Ende kommt dennoch. Obwohl die Wissenschaftler den menschlichen Körper bis auf Quantenebene zerlegt und wieder zusammengesetzt haben, um daran etwas zu ändern.«
Mit einem Mal fühlte er sich wieder erschöpft, setzte sich hin und schloss einen Moment lang die Augen. »Ausreichend, einen gläubig werden zu lassen.«
»Es genügt zumindest, um einen darüber nachdenken zu lassen.«
Sie sah Geary an. »Gibt es ein Haus Ihrer Vorfahren?«
»Nur wenn sie eines gebaut haben, seit ich das letzte Mal dort war.«
»Wohin werden Sie gehen, wenn wir ins Gebiet der Allianz zu-rückgekehrt sind?«