Mit diesen Worten stand er auf, um die Brücke zu verlassen.
Etwas überrascht stellte er fest, dass Co-Präsidentin Rione immer noch auf dem Beobachterplatz saß. Als er an ihr vorbeiging, zog sie die Augenbrauen hoch. »Interessante Darbietung, Captain Geary.«
»Meinen Sie die Sache mit Vebos?«
»Ja. Ich nehme an, das sollte die anderen ermutigen.«
Er stutzte und versuchte sich zu erinnern, wo er diesen Satz schon einmal gehört hatte. »Eigentlich nicht. Vebos hat lediglich bewiesen, dass er nicht intelligent genug ist, um ihm das Kommando über ein Schiff anzuvertrauen. Es geht hier nicht um mich. Es geht um das Wohl der Crew der Arrogant und das Wohl von allen, die sich in irgendeiner Weise auf die Arrogant verlassen müssen.«
Der Blick, mit dem Rione auf seine Ausführungen reagierte, machte keinen Hehl aus ihrer Skepsis. Geary lächelte daraufhin so kurz und knapp, wie es nur ging, und verließ die Brücke.
Einige Stunden später war er zurück auf der Brücke, da er veranlasst hatte, dass man ihn weckte, bevor die Allianz-Flotte zum Sprung aus dem Corvus-System ansetzte. Die Syndik-Flotte war nach wie vor weit abgeschlagen.
Eine Weile hatte er die fremdartigen Lichter im Sprungraum betrachtet, während er in seiner Kabine in einem Sessel zusammenge-sunken saß. Er wusste, vor ihm lagen einige Wochen im Sprungraum, bevor er und der Rest der Allianz-Flotte herausfand, ob sie bei Kaliban eine Überraschung erwartete – und wenn ja, welche. Ich muss noch so viel erledigen, und durch den Sprung bleibt mir der größte Teil verwehrt, da ich bis zur Rückkehr in den Normalraum nur über rudi-mentäre Kommunikationsmöglichkeiten verfüge. Ich sollte mich einfach ausruhen, damit ich endlich wieder zu Kräften komme, was mir nicht gelungen ist, seit die mich aus der Rettungskapsel geholt haben.
Die Flottenärzte nahmen Gearys körperliche Verfassung mit einem Kopfschütteln zur Kenntnis und verordneten ihm bestimmte Medikamente, außerdem empfahlen sie ihm Sport und viel Ruhe. Versuchen Sie Stress zu vermeiden, lautete ihr Ratschlag, aber Geary konnte diese Leute nur anstarren, während er sich fragte, ob sie irgendeine Vorstellung davon hatten, wie lächerlich diese Empfehlung in seinem Fall war.
Was das Ganze umso schlimmer machte, war die Tatsache, dass er sich nicht sicher sein konnte, wie viel Schwäche er irgendwem gegenüber eingestehen durfte. Desjani betete den Raum an, den er durchreiste. Aber Geary wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn ihr klar wurde, dass er nicht der strahlende Held war, den die lebenden Sterne geschickt hatten. Anders wäre es gewesen, wenn er mit Desjani oder einem anderen Offizier schon seit langer Zeit eng zusammengearbeitet hätte. Doch er war buchstäblich aus der Vergangenheit in diese Zeit geschleudert worden und kannte niemanden hier gut genug.
Rione betete ihn nicht an, und sie hätte sich wohl nicht über die Sorgen gewundert, die ihn plagten. Möglicherweise könnte sie sogar mit einem guten Rat aufwarten, denn bislang war Geary von ihrer Denkweise durchweg beeindruckt gewesen. Doch er wusste noch immer nicht, inwieweit er der Co-Präsidentin der Callas-Republik vertrauen konnte. Das Letzte, was er brauchte, war eine in seine Ge-heimnisse eingeweihte Politikerin, die dieses Wissen an seine Gegner weitergeben konnte, wenn ihr das einen politischen Vorteil einbrachte.
Niemand, mit dem er reden konnte. Niemand, mit dem er die Last teilen konnte, die auf seinen Schultern ruhte.
Nein, das stimmte so nicht. Es gab jemanden, mit dem er längst hätte reden sollen. Da rede ich davon, unsere Vorfahren zu ehren, und dabei bin ich derjenige, der ihnen seit dem Erwachen aus dem künstlichen Tiefschlaf noch nicht einmal formal seinen Respekt erwiesen hat.
Er rief die Wegbeschreibung zum entsprechenden Bereich der Dauntless auf, war aber davon überzeugt, dass der allen Veränderungen zum Trotz noch immer dort war, wo er sich auch früher befunden hatte. Und da war er tatsächlich. Er sah auf die Uhr, weil er Gewissheit haben wollte, dass es in dem Bereich im Augenblick ruhig zuging, dann erhob er sich aus seinem Sessel und zog seine Uniform zurecht, atmete tief durch und machte sich auf den Weg zur Gedenkstätte für die Vorfahren.
Zwei Decks tiefer, nahe der Mittschiffslinie der Dauntless und damit in einem der am besten geschützten Bereich des Schiffs lag der Ort, den Geary zum Ziel hatte. Er blieb kurz vor der Luke zur Gedenkstätte stehen und war froh darüber, dass niemand sonst sich hier aufhielt, der ihn beim Eintreten beobachten konnte. Schließlich durchschritt er die Luke und fand sich vor einer angenehm vertrauten Reihe von kleinen Räumen wieder. Er wählte einen freien Raum aus, schloss hinter sich die schalldichte Tür und nahm auf der tradi-tionellen Holzbank vor dem kleinen Regal Platz, auf dem eine einzelne Kerze stand. Mit dem bereitgelegten Feuerzeug entzündete er die Kerze und saß eine Weile da, während er schweigend die Flamme betrachtete.
Schließlich musste er seufzen. »Geehrte Vorfahren. Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, entschuldigte sich Geary an die Geister gerichtet, die angeblich vom Licht und der Wärme der Flamme angezogen wurden. »Ich hätte meine Vorfahren bereits viel früher ehren sollen, aber ihr wisst sicher, ich hatte eine Menge Arbeit. Außerdem muss ich mich mit so vielen Dingen beschäftigen, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich mich ihnen würde stellen müssen.
Das ist zwar eigentlich kein Argument, doch ich hoffe, ihr werdet meine Entschuldigung akzeptieren.«
Einen Moment lang schwieg er. »Vielleicht habt ihr euch gefragt, wo ich die ganze Zeit über war. Vielleicht wisst ihr das ja auch. Vielleicht hat Michael Geary euch inzwischen alles gesagt, falls er auf seinem Schiff gestorben ist, was ich sehr befürchte. Ich möchte euch sagen, ihr wärt auf ihn stolz gewesen. Lasst ihn bitte wissen, dass ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit ihm verbringen können.
Viel Zeit ist vergangen, seit ich das letzte Mal mit euch sprach.
Vieles hat sich seitdem verändert, und wie es scheint, hat sich vieles, wenn nicht sogar alles zum Schlechteren verändert. Jedenfalls ist das mein Eindruck. Ich kann nicht so tun, als würde ich nicht jede Unterstützung und Hilfe gebrauchen können, die ich bekomme.
Ganz gleich, was ihr für mich tun könnt, ich bin für alles dankbar.
Und ich danke euch für alles, was ihr getan habt, damit wir es so weit schaffen konnten.«
Wieder machte er eine Pause und fragte sich nicht zum ersten Mal, warum es ihm immer wieder Trost spendete, wenn er mit den Vorfahren reden konnte. Er hätte sich nicht als einen gläubigen Menschen bezeichnet, und doch kam es ihm so vor, als würde ihm in Zeiten wie diesen stets jemand zuhören. Und wenn ein Mann nicht einmal seinen Vorfahren etwas anvertrauen konnte, wem sollte er dann etwas anvertrauen? »Das ist für mich sehr schwierig. Ich gebe mein Bestes, aber ich bin mir nicht sicher, ob das auch gut genug ist.
Das Wohl vieler Leute hängt von mir ab. Einige von ihnen werden sterben. Ich kann nicht so tun, als würde das nicht geschehen. Selbst wenn es mir irgendwie gelingen sollte, alles richtig zu machen, werden wir einige Schiffe verlieren, bevor wir wieder zu Hause sind.
Falls mir Fehler unterlaufen…«
Er hielt inne und musste an die Repulse denken. »Falls mir noch mehr Fehler unterlaufen, könnten viele Menschen ums Leben kommen. Bis ins Gebiet der Allianz ist es noch ein weiter Weg. Ich hoffe, ich kann die uns verfolgende Flotte der Syndikatwelten ausreichend anderweitig beschäftigen, damit sie keine Gelegenheit bekommt, aus unserer Niederlage in ihrem Heimatsystem Kapital zu schlagen.
Aber erst wenn wir der Heimat nahe genug gekommen sind und in den Besitz möglichst aktueller Informationen gelangen, werden wir wissen, ob die Syndiks unsere Niederlage und die Tatsache ausgenutzt haben, dass wir ihnen so weit von zu Hause entfernt in die Falle gegangen sind.«