Erneut schwieg er. »Es ist ja nicht so, dass ich mir Sorgen mache, was aus mir werden wird. Mir kommt es ohnehin so vor, als hätte ich bereits vor einem Jahrhundert sterben sollen. Aber von dem Ge-fühl kann ich mich nicht vereinnahmen lassen, weil mir wichtig ist, was mit diesen Menschen geschieht, die so großes Vertrauen in mich setzen. Helft mir bitte, die richtigen Entscheidungen zu treffen und das Richtige zu tun, damit ich so wenige Schiffe und Leute wie möglich verliere. Ich schwöre, ich werde mein Bestes versuchen, um euch und den Lebenden gerecht zu werden.«
Geary saß noch eine Weile da, beobachtete die brennende Kerze, bis er schließlich die Hand ausstreckte und die Flamme mit den Fingern ausdrückte. Dann stand er auf und verließ den Raum.
Als er aus dem Bereich trat, wurde er von mehreren Matrosen bemerkt. Er nickte ihnen zu, während sie ihn mit ehrfürchtigen Mienen anschauten. Verdammt, ich sollte eigentlich einer von den toten Vorfahren sein, mit denen die Leute reden, anstatt hier auf diesen Decks unterwegs zu sein. Und das wissen die auch.
Doch die Matrosen verhielten sich nicht so, als hätten sie jemanden gesehen, der hier fehl am Platz war. Ein paar von ihnen salutierten auf die steife, ungelenke Art, die man bei jedem beobachten konnte, der diese Geste gerade erst erlernt hatte. Unwillkürlich musste er lächeln, als er den Salut erwiderte. Dann jedoch bemerkte er einen Anflug von Zurückhaltung in den Blicken der beiden anderen Matrosen, und er wurde wieder ernst. »Stimmt irgendetwas nicht?«
Der angesprochene Matrose wurde bleich. »N-nein, Sir.«
Geary musterte den Mann eindringlich. »Ganz sicher? Sie scheint etwas zu bedrücken. Wenn Sie unter vier Augen darüber reden möchten? Ich hätte Zeit für Sie.«
Der Matrose suchte noch nach einer Antwort, da räusperte sich seine Kameradin. »Sir, das geht uns nichts an.«
»Tatsächlich?« Geary sah sich um und bemerkte deutlich das Unbehagen der beiden anderen. »Ich würde trotzdem gern wissen, was Ihnen so zusetzt.«
Die Frau wurde ebenfalls etwas blasser, dann antwortete sie sto-ckend: »Es ist nur, dass wir Sie hier unten zu sehen bekommen. Es gab Gerede.«
»Gerede?« Er versuchte, eine neutrale Miene zu wahren. Es gefiel ihm nicht, seinen Glauben zu einem öffentlichen Spektakel zu machen, doch das hier schien über diesen Punkt hinauszugehen. »Über was?«
Einer der Matrosen, die salutiert hatten, warf den anderen einen verärgerten Blick zu. »Sir, niemand hat Sie hier gesehen, seit… ähm… seit wir Sie gefunden haben. Und seit wir das Heimatsystem der Syndiks verlassen haben… Nun, Sir, einige Leute meinen, es könnte etwas mit dem zu tun haben, was dort passiert ist.«
Geary hoffte, dass er nicht so wütend dreinblickte, wie ihn diese vage Aussage stimmte. »Was genau meinen Sie damit?« Dann wurde es ihm klar. »Sie reden von der Repulse, richtig?« Die Gesichter der Matrosen machten jede in Worte gefasste Antwort überflüssig.
»Sie meinen, weil mein Großneffe vermutlich auf der Repulse gestorben ist.«
Er senkte den Blick, weil er für den Moment niemanden ansehen wollte, und schüttelte den Kopf. »Dachten Sie, ich habe Angst herzukommen und mich ihm zu stellen? Mich dieser Sache zu stellen?«
Geary hob den Kopf und las erneut die Antwort an ihren Gesichtern ab. »Ich habe keine Ahnung, wie viel jeder von Ihnen weiß, jedenfalls meldete sich Captain Michael J. Geary freiwillig, um mit der Repulse zurückzubleiben und die Syndiks aufzuhalten. Hätte er das nicht gemacht, hätte ich es vermutlich befehlen müssen, weil es meine Verantwortung gewesen wäre. Aber ich gab nicht den Befehl, und ich musste ihn nicht geben. Er und seine Crew opferten sich, damit wir alle entkommen konnten.«
Ihre Gesichter verrieten ihm, dass diese Tatsache für sie neu war.
Na, wunderbar. Die haben gedacht, ich hätte meinen Großneffen in den Tod geschickt. Das Üble daran ist nur, dass ich es unter Umständen tatsächlich hätte machen müssen. »Ich habe nichts zu befürchten, wenn ich meinen Vorfahren gegenübertrete. Nicht mehr und nicht weniger als jeder andere auch. Es gab nur zu viel zu erledigen, deshalb war ich bislang noch nicht hier unten gewesen.«
»Natürlich, Sir«, erwiderte einer der Matrosen.
»Sie fürchten sich doch vor nichts, richtig, Sir?«, wollte ein anderer wissen.
Einer von denen, die mich anbeten, ging es Geary durch den Kopf.
Wie soll ich darauf antworten? »So wie jeder andere auch bin ich besorgt, ich könnte vielleicht nicht mein Bestes geben. Es hilft mir, immer auf der Hut zu sein.« Er grinste, um ihnen zu zeigen, dass es als Scherz gemeint war, und die Matrosen lachten wie auf ein Stichwort hin. Jetzt musste er sich nur noch so schnell wie möglich aus dieser Unterhaltung verabschieden, ohne seine Flucht zu offensichtlich zu gestalten. »Es tut mir leid, dass ich Sie von Ihren eigenen Ehrerbie-tungen abgehalten habe.«
Die Matrosen setzten zu einem Stimmengewirr an, sie seien diejenigen, denen es leid tue, und dann machten sie ihm auch schon den Weg frei. Im Vorbeigehen bemerkte Geary, dass sich die zwei besorgten Matrosen in seiner Gegenwart prompt viel wohler fühlten.
Zu seiner Überraschung musste er feststellen, dass ihm seinerseits in deren Gesellschaft auch etwas wohler zumute war. Vielleicht hatte er auf seine Art einen Bogen darum gemacht, sich mit dem Verlust der Repulse auseinanderzusetzen, doch indem er anderen gegenüber seine Gefühle aussprach, war es ihm möglich geworden, diesen Verlust wenigstens zum Teil zu akzeptieren.
Er begab sich zu seiner Kabine und fand, dass die Last auf seinen Schultern nicht mehr so schwer wog.
»Captain Geary, darf ich unter vier Augen mit Ihnen reden?« Geary schloss die Simulation, an der er gearbeitet hatte und die die Flotte als Vorbereitung auf ein Gefecht üben sollte, sobald sie Kaliban erreicht hatten. Es handelte sich um ein älteres Programm, mit dessen uraltem Vorgänger er vor langer Zeit vertraut gewesen war. Aber auch diese neuere Version war seit einer Weile nicht mehr aktualisiert worden. Die Simulationsparameter sollten dem gegenwärtigen Zustand seiner Flotte entsprechen und jene Fähigkeiten berücksichtigen, über die die Syndiks inzwischen verfügten. Doch ihm blieb noch genug Zeit, um das zu erledigen, bevor die Flotte in Kaliban ankam. Captain Desjani musste sich dagegen Zeit von ihren vielfältigen Pflichten als befehlshabender Offizier der Dauntless abknap-sen, um jetzt zu ihm zu kommen. »Ja, natürlich.«
Desjani hielt kurz inne, als müsse sie erst ihre Gedanken ordnen.
»Ich weiß, das ist jetzt bereits fast eine Woche her, aber ich hatte gehofft, Sie könnten mir sagen, warum Sie entschieden haben, die Besatzungen der Syndik-Handelsschiffe in die Rettungskapseln zu setzen. Ich verstehe Ihre Einstellung, was die Behandlung von Gefangenen angeht, aber diese Individuen trugen keine Uniformen, sondern Zivilkleidung. Das macht sie bestenfalls zu Saboteuren, und die fallen nicht unter den Schutz des Kriegsrechts.« Sie schien fertig zu sein, doch dann schob sie noch rasch einen Satz nach: »Natürlich stelle ich damit nicht Ihre Entscheidung infrage.«
»Captain Desjani, ich zähle sogar darauf, dass Sie meine Entscheidungen infrage stellen, wenn Sie nicht verstehen, warum ich etwas mache. Sie könnten etwas Maßgebliches wissen, das mir nicht bekannt ist.« Er kniff einen Moment lang die Augen zu und rieb seine Stirn, um die Spannung zu lindern, die ihn auf einmal überkommen hatte. »Selbstverständlich haben Sie recht, wenn Sie sagen, dass wir nicht verpflichtet waren, diese Leute am Leben zu lassen. Wir hätten sie sogar hinrichten können, und niemand hätte uns einen Vorwurf machen dürfen.« Er grinste schief. »Sie haben danach nicht direkt gefragt, dennoch werde ich Ihnen antworten. Ich bin mir sicher, Ihre und meine Vorfahren hätten uns nicht schief angesehen, wenn wir mit diesen Syndiks gröber und endgültiger umgesprungen wären.«