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35.

Kritik der Décadence-Moral. Eine »altruistische« Moral, eine Moral, bei der die Selbstsucht verkümmert —, bleibt unter allen Umständen ein schlechtes Anzeichen. Dies gilt vom Einzelnen, dies gilt namentlich von Völkern. Es fehlt am Besten, wenn es an der Selbstsucht zu fehlen beginnt. Instinktiv das Sich-Schädliche wählen, Gelockt-werden durch »uninteressirte« Motive giebt beinahe die Formel ab für décadence. »Nicht seinen Nutzen suchen« — das ist bloss das moralische Feigenblatt für eine ganz andere, nämlich physiologische Thatsächlichkeit: »ich weiss meinen Nutzen nicht mehr zu finden« Disgregation der Instinkte! — Es ist zu Ende mit ihm, wenn der Mensch altruistisch wird. — Statt naiv zu sagen, »ich bin nichts mehr werth«, sagt die Moral Lüge im Munde des décadent: »Nichts ist etwas werth, — das Leben ist nichts werth« ... Ein solches Urtheil bleibt zuletzt eine grosse Gefahr, es wirkt ansteckend, — auf dem ganzen morbiden Boden der Gesellschaft wuchert es bald zu tropischer Begriffs-Vegetation empor, bald als Religion (Christenthum), bald als Philosophie (Schopenhauerei). Unter Umständen vergiftet eine solche aus Fäulniss gewachsene Giftbaum-Vegetation mit ihrem Dunste weithin, auf Jahrtausende hin das Leben...

36.

Moral für Ärzte. — Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetiren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn. Die Ärzte wiederum hätten die Vermittler dieser Verachtung zu sein, — nicht Recepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis Ekel vor ihrem Patienten ... Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens, des aufsteigenden Lebens, das rücksichtsloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des entartenden Lebens verlangt — zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geboren zu werden, für das Recht, zu leben ... Auf eine stolze Art sterben, wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben. Der Tod, aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rechten Zeit, mit Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: so dass ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo Der noch da ist, der sich verabschiedet, insgleichen ein wirkliches Abschätzen des Erreichten und Gewollten, eine Summirung des Lebens — Alles im Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften Komödie, die das Christenthum mit der Sterbestunde getrieben hat. Man soll es dem Christenthume nie vergessen, dass es die Schwäche des Sterbenden zu Gewissens-Nothzucht, dass es die Art des Todes selbst zu Werth-Urtheilen über Mensch und Vergangenheit gemissbraucht hat! — Hier gilt es, allen Feigheiten des Vorurtheils zum Trotz, vor Allem die richtige, das heisst physiologische Würdigung des sogenannten natürlichen Todes herzustellen: der zuletzt auch nur ein »unnatürlicher«, ein Selbstmord ist. Man geht nie durch jemand Anderes zu Grunde, als durch sich selbst. Nur ist es der Tod unter den verächtlichsten Bedingungen, ein unfreier Tod, ein Tod zur unrechten Zeit, ein Feiglings Tod. Man sollte, aus Liebe zum Leben —, den Tod anders wollen, frei, bewusst, ohne Zufall, ohne Überfall ... Endlich ein Rath für die Herrn Pessimisten und andere décadents. Wir haben es nicht in der Hand, zu verhindern, geboren zu werden: aber wir können diesen Fehler — denn bisweilen ist es ein Fehler — wieder gut machen. Wenn man sich abschafft, thut man die achtungswürdigste Sache, die es giebt: man verdient beinahe damit, zu leben ... Die Gesellschaft, was sage ich! Das Leben selber hat mehr Vortheil davon, als durch irgend welches »Leben« in Entsagung, Bleichsucht und andrer Tugend —, man hat die Andern von seinem Anblick befreit, man hat das Leben von einem Einwand befreit ... Der Pessimismus, pur, vert, beweist sich erst durch die Selbst-Widerlegung der Herrn Pessimisten: man muss einen Schritt weiter gehn in seiner Logik, nicht bloss mit »Wille und Vorstellung«, wie Schopenhauer es that, das Leben verneinen —, man muss Schopenhauern zuerst verneinen ... Der Pessimismus, anbei gesagt, so ansteckend er ist, vermehrt trotzdem nicht die Krankhaftigkeit einer Zeit, eines Geschlechts im Ganzen: er ist deren Ausdruck. Man verfällt ihm, wie man der Cholera verfällt: man muss morbid genug dazu schon angelegt sein. Der Pessimismus selbst macht keinen einzigen décadent mehr; ich erinnere an das Ergebniss der Statistik, dass die Jahre, in denen die Cholera wüthet, sich in der Gesammt-Ziffer der Sterbefälle nicht von andern Jahrgängen unterscheiden.

37.

Ob wir moralischer geworden sind. — Gegen meinen Begriff »jenseits von Gut und Böse« hat sich, wie zu erwarten stand, die ganze Ferocität der moralischen Verdummung, die bekanntlich in Deutschland als die Moral selber gilt —, in's Zeug geworfen: ich hätte artige Geschichten davon zu erzählen. Vor Allem gab man mir die »unleugbare Überlegenheit« unsrer Zeit im sittlichen Urtheil zu überdenken, unsern wirklich hier gemachten Fortschritt: ein Cesare Borgia sei, im Vergleich mit uns, durchaus nicht als ein »höherer Mensch«, als eine Art Übermensch, wie ich es thue, aufzustellen ... Ein Schweizer Redakteur, vom »Bund«, gieng so weit, nicht ohne seine Achtung vor dem Muth zu solchem Wagniss auszudrücken, den Sinn meines Werks dahin zu »verstehn«, dass ich mit demselben die Abschaffung aller anständigen Gefühle beantragte. Sehr verbunden! — Ich erlaube mir, als Antwort, die Frage aufzuwerfen, ob wir wirklich moralischer geworden sind. Dass alle Welt das glaubt, ist bereits ein Einwand dagegen ... Wir modernen Menschen, sehr zart, sehr verletzlich und hundert Rücksichten gebend und nehmend, bilden uns in der That ein, diese zärtliche Menschlichkeit, die wir darstellen, diese erreichte Einmüthigkeit in der Schonung, in der Hülfsbereitschaft, im gegenseitigen Vertrauen sei ein positiver Fortschritt, damit seien wir weit über die Menschen der Renaissance hinaus. Aber so denkt jede Zeit, so muss sie denken. Gewiss ist, dass wir uns nicht in Renaissance-Zustände hineinstellen dürften, nicht einmal hineindenken: unsre Nerven hielten jene Wirklichkeit nicht aus, nicht zu reden von unsern Muskeln. Mit diesem Unvermögen ist aber kein Fortschritt bewiesen, sondern nur eine andre, eine spätere Beschaffenheit, eine schwächere, zärtlichere, verletzlichere, aus der sich nothwendig eine rücksichtenreiche Moral erzeugt. Denken wir unsre Zartheit und Spätheit, unsre physiologische Alterung weg, so verlöre auch unsre Moral der »Vermenschlichung« sofort ihren Werth — an sich hat keine Moral Werth —: sie würde uns selbst Geringschätzung machen. Zweifeln wir andrerseits nicht daran, dass wir Modernen mit unsrer dick wattirten Humanität, die durchaus an keinen Stein sich stossen Will, den Zeitgenossen Cesare Borgia's eine Komödie zum Todtlachen abgeben würden. In der That, wir sind über die Maassen unfreiwillig spasshaft, mit unsren modernen »Tugenden« ... Die Abnahme der feindseligen und misstrauenweckenden Instinkte — und das wäre ja unser »Fortschritt« — stellt nur eine der Folgen in der allgemeinen Abnahme der Vitalität dar: es kostet hundert Mal mehr Mühe, mehr Vorsicht, ein so bedingtes, so spätes Dasein durchzusetzen. Da hilft man sich gegenseitig, da ist Jeder bis zu einem gewissen Grade Kranker und Jeder Krankenwärter. Das heisst dann »Tugend« —: unter Menschen, die das Leben noch anders kannten, voller, verschwenderischer, überströmender, hätte man's anders genannt, »Feigheit« vielleicht, »Erbärmlichkeit«, »Altweiber-Moral« ... Unsre Milderung der Sitten — das ist mein Satz, das ist, wenn man will, meine Neuerung — ist eine Folge des Niedergangs; die Härte und Schrecklichkeit der Sitte kann umgekehrt eine Folge des Überschusses von Leben sein: dann nämlich darf auch Viel gewagt, Viel herausgefordert, Viel auch vergeudet werden. Was Würze ehedem des Lebens war, für uns wäre es Gift ... Indifferent zu sein — auch das ist eine Form der Stärke — dazu sind wir gleichfalls zu alt, zu spät: unsre Mitgefühls-Moral, vor der ich als der Erste gewarnt habe, Das, was man l'impressionisme morale nennen könnte, ist ein Ausdruck mehr der physiologischen Überreizbarkeit, die Allem, was décadent ist, eignet. Jene Bewegung, die mit der Mitleids-Moral Schopenhauer's versucht hat, sich wissenschaftlich vorzuführen — ein sehr unglücklicher Versuch! — ist die eigentliche décadence-Bewegung in der Moral, sie ist als solche tief verwandt mit der christlichen Moral. Die starken Zeiten, die vornehmen Culturen sehen im Mitleiden, in der »Nächstenliebe«, im Mangel an Selbst und Selbstgefühl etwas Verächtliches. — Die Zeiten sind zu messen nach ihren positiven Kräften — und dabei ergiebt sich jene so verschwenderische und verhängnissreiche Zeit der Renaissance als die letzte große Zeit, und wir, wir Modernen mit unsrer ängstlichen Selbst-Fürsorge und Nächstenliebe, mit unsren Tugenden der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit, der Wissenschaftlichkeit — sammelnd, ökonomisch, machinal — als eine schwache Zeit ... Unsre Tugenden sind bedingt, sind herausgefordert durch unsre Schwäche ... Die »Gleichheit«, eine gewisse thatsächliche Anähnlichung, die sich in der Theorie von »gleichen Rechten« nur zum Ausdruck bringt, gehört wesentlich zum Niedergang: die Kluft zwischen Mensch und Mensch, Stand und Stand, die Vielheit der Typen, der Wille, selbst zu sein, sich abzuheben, Das, was ich Pathos der Distanz nenne, ist jeder starken Zeit zu eigen. Die Spannkraft, die Spannweite zwischen den Extremen wird heute immer kleiner, — die Extreme selbst verwischen sich endlich bis zur Ähnlichkeit ... Alle unsre politischen Theorien und Staats-Verfassungen, das »deutsche Reich« durchaus nicht ausgenommen, sind Folgerungen, Folge-Nothwendigkeiten des Niedergangs; die unbewusste Wirkung der décadence ist bis in die Ideale einzelner Wissenschaften hinein Herr geworden. Mein Einwand gegen die ganze Sociologie in England und Frankreich bleibt, dass sie nur die Verfalls-Gebilde der Societät aus Erfahrung kennt und vollkommen unschuldig die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des sociologischen Werthurteils nimmt. Das niedergehende Leben, die Abnahme aller organisirenden, das heisst trennenden, Klüfte aufreissenden, unter- und überordnenden Kraft formulirt sich in der Sociologie von heute zum Ideal ... Unsre Socialisten sind décadents, aber auch Herr Herbert Spencer ist ein décadent, — er sieht im Sieg des Altruismus etwas Wünschenswerthes! ...