Goethe — kein deutsches Ereigniss, sondern ein europäisches: ein grossartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur, durch ein Hinaufkommen zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses Jahrhunderts. — Er trug dessen stärkste Instinkte in sich: die Gefühlsamkeit, die Natur-Idolatrie, das Antihistorische, das Idealistische, das Unreale und Revolutionäre (- letzteres ist nur eine Form des Unrealen). Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike, insgleichen Spinoza zu Hülfe, vor Allem die praktische Thätigkeit; er umstellte sich mit lauter geschlossenen Horizonten; er löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nicht verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich. Was er Wollte, das war Totalität; er bekämpfte das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille (- in abschreckendster Scholastik durch Kant gepredigt, den Antipoden Goethe's), er disciplinirte sich zur Ganzheit, er schuf sich ... Goethe war, inmitten eines unreal gesinnten Zeitalters, ein überzeugter Realist: er sagte ja zu Allem, was ihm hierin verwandt war, — er hatte kein grösseres Erlebniss als jenes ens realissimum, genannt Napoleon. Goethe concipirte einen starken, hochgebildeten, in aller Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichthum der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er Das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde gehn würde, noch zu seinem Vortheile zu brauchen weiss; den Menschen, für den es nichts Verbotenes mehr giebt, es sei denn die Schwäche, heisse sie nun Laster oder Tugend ... Ein solcher freigewordner Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht — er verneint nicht mehr ... Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des Dionysos getauft. —
Man könnte sagen, dass in gewissem Sinne das neunzehnte Jahrhundert Das alles auch erstrebt hat, was Goethe als Person erstrebte: eine Universalität im Verstehn, im Gutheissen, ein Ansich-heran-kommen-lassen von Jedwedem, einen verwegnen Realismus, eine Ehrfurcht vor allem Thatsächlichen. Wie kommt es, dass das Gesammt-Ergebniss kein Goethe, sondern ein Chaos ist, ein nihilistisches Seufzen, ein Nicht-wissen-wo-aus-noch-ein, ein Instinkt von Ermüdung, der in praxi fortwährend dazu treibt, zum achtzehnten Jahrhundert zurückzugreifen?(- zum Beispiel als Gefühls-Romantik, als Altruismus und Hyper-Sentimentalität, als Femininismus im Geschmack, als Socialismus in der Politik.) Ist nicht das neunzehnte Jahrhundert, zumal in seinem Ausgange, bloss ein verstärktes verrohtes achtzehntes Jahrhundert, das heisst ein décadence-Jahrhundert? So dass Goethe nicht bloss für Deutschland, sondern für ganz Europa bloss ein Zwischenfall, ein schönes Umsonst gewesen wäre? — Aber man missversteht grosse Menschen, wenn man sie aus der armseligen Perspektive eines öffentlichen Nutzens ansieht. Dass man keinen Nutzen aus ihnen zu ziehn weiss, das gehört selbst vielleicht zur Grösse ...
Goethe ist der letzte Deutsche, vor dem ich Ehrfurcht habe: er hätte drei Dinge empfunden, die ich empfinde, — auch verstehen wir uns über das »Kreuz« ... Man fragt mich öfter, wozu ich eigentlich deutsch schriebe: nirgendswo würde ich schlechter gelesen, als im Vaterlande. Aber wer weiss zuletzt, ob ich auch nur wünsche, heute gelesen zu werden? — Dinge schaffen, an denen umsonst die Zeit ihre Zähne versucht; der Form nach, der Substanz nach um eine kleine Unsterblichkeit bemüht sein — ich war noch nie bescheiden genug, weniger von mir zu verlangen. Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der Erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der »Ewigkeit«; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt, — was jeder Andre in einem Buche nicht sagt ...
Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Zarathustra: ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste. —
Was ich den Alten verdanke.
Zum Schluss ein Wort über jene Welt, zu der ich Zugänge gesucht, zu der ich vielleicht einen neuen Zugang gefunden habe — die alte Welt. Mein Geschmack, der der Gegensatz eines duldsamen Geschmacks sein mag, ist auch hier fern davon, in Bausch und Bogen ja zu sagen: er sagt überhaupt nicht gern ja, lieber noch Nein, am allerliebsten gar nichts ... Das gilt von ganzen Culturen, das gilt von Büchern, — es gilt auch von Orten und Landschaften. Im Grunde ist es eine ganz kleine Anzahl antiker Bücher, die in meinem Leben mitzählen; die berühmtesten sind nicht darunter. Mein Sinn für Stil, für das Epigramm als Stil erwachte fast augenblicklich bei der Berührung mit Sallust. Ich habe das Erstaunen meines verehrten Lehrers Corssen nicht vergessen, als er seinem schlechtesten Lateiner die allererste Censur geben musste —, ich war mit Einem Schlage fertig. Gedrängt, streng, mit so viel Substanz als möglich auf dem Grunde, eine kalte Bosheit gegen das »schöne Wort«, auch das »schöne Gefühl« — daran errieth ich mich. Man wird, bis in meinen Zarathustra hinein, eine sehr ernsthafte Ambition nach römischem Stil, nach dem »aere perennius« im Stil bei mir wiedererkennen. — Nicht anders ergieng es mir bei der ersten Berührung mit Horaz. Bis heute habe ich an keinem Dichter dasselbe artistische Entzücken gehabt, das mir von Anfang an eine Horazische Ode gab. In gewissen Sprachen ist Das, was hier erreicht ist, nicht einmal zu wollen. Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze hin seine Kraft ausströmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen — das Alles ist römisch und, wenn man mir glauben will, vornehm par excellence. Der ganze Rest von Poesie wird dagegen etwas zu Populäres, — eine blosse Gefühls-Geschwätzigkeit ...
Den Griechen verdanke ich durchaus keine verwandt starken Eindrücke; und, um es geradezu herauszusagen, sie können uns nicht sein, was die Römer sind. Man lernt nicht von den Griechen — ihre Art ist zu fremd, sie ist auch zu flüssig, um imperativisch, um »klassisch« zu wirken. Wer hätte je an einem Griechen schreiben gelernt! Wer hätte es je ohne die Römer gelernt! ... Man wende mir ja nicht Plato ein. Im Verhältniss zu Plato bin ich ein gründlicher Skeptiker und war stets ausser Stande, in die Bewunderung des Artisten Plato, die unter Gelehrten herkömmlich ist, einzustimmen. Zuletzt habe ich hier die raffinirtesten Geschmacksrichter unter den Alten selbst auf meiner Seite. Plato wirft, wie mir scheint, alle Formen des Stils durcheinander, er ist damit ein erster décadent des Stils: er hat etwas Ähnliches auf dem Gewissen, wie die Cyniker, die die satura Menippea erfanden. Dass der Platonische Dialog, diese entsetzlich selbstgefällige und kindliche Art Dialektik, als Reiz wirken könne, dazu muss man nie gute Franzosen gelesen haben, — Fontenelle zum Beispiel. Plato ist langweilig. — Zuletzt geht mein Misstrauen bei Plato in die Tiefe: ich finde ihn so abgeirrt von allen Grundinstinkten der Hellenen, so vermoralisirt, so präexistent-christlich — er hat bereits den Begriff »gut« als obersten Begriff —, dass ich von dem ganzen Phänomen Plato eher das harte Wort »höherer Schwindel« oder, wenn man's lieber hört, Idealismus — als irgend ein andres gebrauchen möchte. Man hat theuer dafür bezahlt, dass dieser Athener bei den Ägyptern in die Schule gieng (- oder bei den Juden in Agypten? ... ) Im grossen Verhängniss des Christenthums ist Plato jene »Ideal« genannte Zweideutigkeit und Fascination, die den edleren Naturen des Alterthums es möglich machte, sich selbst misszuverstehn und die Brücke zu betreten, die zum »Kreuz« führte ... Und wie viel Plato ist noch im Begriff »Kirche«, in Bau, System, Praxis der Kirche! — Meine Erholung, meine Vorliebe, meine Kur von allem Platonismus war zu jeder Zeit Thukydides. Thukydides und, vielleicht, der principe Machiavell's sind mir selber am meisten verwandt durch den unbedingten Willen, sich Nichts vorzumachen und die Vernunft in der Realität zu sehn, — nicht in der »Vernunft«, noch weniger in der »Moral« ... Von der jämmerlichen Schönfärberei der Griechen in's Ideal, die der »klassisch gebildete« Jüngling als Lohn für seine Gymnasial-Dressur in's Leben davonträgt, kurirt Nichts so gründlich als Thukydides. Man muss ihn Zeile für Zeile umwenden und seine Hintergedanken so deutlich ablesen wie seine Worte: es giebt wenige so hintergedankenreiche Denker. In ihm kommt die Sophisten-Cultur, will sagen die Realisten-Cultur, zu ihrem vollendeten Ausdruck: diese unschätzbare Bewegung inmitten des eben allerwärts losbrechenden Moral- und Ideal-Schwindels der sokratischen Schulen. Die griechische Philosophie als die décadence des griechischen Instinkts; Thukydides als die grosse Summe, die letzte Offenbarung jener starken, strengen, harten Thatsächlichkeit, die dem älteren Hellenen im Instinkte lag. Der Muth vor der Realität unterscheidet zuletzt solche Naturen wie Thukydides und Plato: Plato ist ein Feigling vor der Realität, — folglich flüchtet er in's Ideal; Thukydides hat sich in der Gewalt, folglich behält er auch die Dinge in der Gewalt ...