Auraya verlangsamte ihre Schritte und blieb in dem Leeren Raum stehen, bevor sie sich umdrehte und wieder in die Mitte der Höhle zurücktrat. Jade betrachtete sie ernst.
Wenn es kein Vergehen ist, über Wissen zu verfügen, das Unsterblichkeit verleihen kann, dann ist es auch kein Vergehen zu wissen, wie ich meine Gedanken verbergen kann, überlegte sie. Und wenn Mirar zurückkehrt, weil ich mich geweigert habe, von Jade zu lernen, wird das alle möglichen Schwierigkeiten aufwerfen.
»Wie lange wird es dauern?«, fragte sie.
Jades Miene wurde weicher. »Einige Wochen. Weniger, wenn du schnell lernst.«
»Die Siyee werden nach mir suchen.«
»Wir werden ihnen erzählen, dass du nur so lange bleiben wirst, bis du dir sicher sein kannst, dass ich wieder genesen bin.«
»Ah, ja. Die sagenumwobene Krankheit.« Auraya trat vor die Frau hin. »Rechne damit, dass deine Genesung schnell vonstattengehen wird, Jade Tänzerin, da ich nicht die Absicht habe, länger als nötig hierzubleiben.«
Die Frau schnaubte. »Sei versichert, dass es mir nicht anders geht.«
Ganz gleich, wie oft Reivan in einer Sänfte getragen wurde, sie konnte sich niemals an die Bewegungen gewöhnen, erst recht nicht, wenn die Träger rannten. Oder war ihr Unbehagen in der Tatsache zu suchen, dass die vier Sklaven ihre Würde und ihr Wohlergehen in Händen hielten? Wie alle Sklaven waren sie Verbrecher, aber diese waren von den Götterdienern aufgrund ihrer Verlässlichkeit, ihrer Körperbeherrschung und ihrer willigen Mitarbeit für diese Aufgabe ausgewählt worden.
Doch wer immer sie ausgewählt hat, ist wahrscheinlich davon ausgegangen, dass jeder Götterdiener, der in einer Sänfte reist, auf Befähigungen würde zurückgreifen können, sollte er sich jemals verteidigen müssen oder sollten die Sklaven die Sänfte fallen lassen. Sie war nicht einmal befähigt genug, um die reglose, heiße Luft zu bewegen und sich ein wenig Abkühlung zu verschaffen. Im Allgemeinen konnte man nur dann Götterdiener werden, wenn man Befähigungen besaß, aber sie war eine Ausnahme gewesen. Ihre Weihe zur Götterdienerin war Reivans Belohnung dafür gewesen, dass sie die pentadrianische Armee davor bewahrt hatte, sich in den Minen Sennons zu verirren… War das wirklich nicht einmal ein Jahr her?
Sie seufzte und versuchte, den Schweiß, der den Sklaven den Rücken hinunterlief, zu übersehen. Die Hinweise auf das Unbehagen der Männer verschlimmerten ihr eigenes Unbehagen noch. Und diese schwarzen Roben machen die Sache auch nicht besser, fügte sie im Geiste hinzu und zupfte an ihrem Ausschnitt.
Die Sklaven bogen auf die Promenade ein und bahnten sich einen Weg durch die Menge auf das Sanktuarium zu. Die weitverzweigten Gebäude, die den wichtigsten pentadrianischen Tempel bildeten, sahen aus wie eine riesige Treppe. Imenja hatte Reivan angewiesen, so schnell wie möglich zurückzukehren, und der Gedanke, den größten Teil des Sanktuariums hinaufsteigen zu müssen, um sie zu erreichen, war nicht gerade erbaulich.
An der breiten Treppe des Gebäudes setzten die Sklaven die Sänfte ab. Reivan hielt kurz inne, um dem Sklavenmeister dankend zuzunicken, dann machte sie sich auf den Weg nach oben.
Eine ausladende, überwölbte Fassade hieß Besucher in dem größten pentadrianischen Gebäude in ganz Ithania willkommen. Nachdem sie durch einen der Eingänge gegangen war, gelangte sie in eine große, luftige Halle. Überall standen Götterdiener bereit, um Besucher zu begrüßen. Hinter der Halle lag ein Innenhof, um den Reivan herumging, so dass sie sich im kühlen Schatten halten konnte.
Ein breiter Flur folgte, der sie durch das Untere Sanktuarium führte. Auch hier fanden sich überall Götterdiener, deren schwarze Roben sich vor den weißen Wänden wie Tintenflecken ausnahmen. Auf dem Weg in das Mittlere Sanktuarium verzweigte der Flur sich mehrmals. Während sie den Weg zum Oberen Sanktuarium entlangeilte, wichen ihr mehrere Götterdiener aus, die ihr höflich zunickten.
Ihr Respekt ließ eine selbstgefällige Befriedigung in ihr aufsteigen. So benehmen sie sich schon, seit Imenja und ich von unseren Vertragsverhandlungen mit den Elai zurückgekehrt sind. Es hatte keinen Protest gegeben, als Imenja Reivan zu ihrer Gefährtin gemacht hatte. Trotzdem halte ich immer wieder Ausschau nach Anzeichen dafür, dass die Toleranz der Götterdiener mir gegenüber schwindet.
Die Flure im Oberen Sanktuarium waren breit und still, die Wände mit Kunstwerken geschmückt und die Böden mit Mosaiken bedeckt. Etliche Türen führten in private Höfe, in denen Springbrunnen die Luft kühl hielten. Reivan bewohnte jetzt eine Zimmerflucht, die in dem gleichen strengen, aber luxuriösen Stil gehalten war, wie die Stimmen ihn schätzten.
Ich nehme an, wenn man die Ewigkeit im Dienst der Götter verbringt, kann man es sich geradeso gut auch bequem machen, überlegte sie. Ich mag nicht unsterblich sein oder eine ganze Zimmerflucht für mich allein benötigen, aber ich weiß sie zu schätzen, weil sie eine Anerkennung für all die Arbeit ist, die ich hier leiste.
Hast du es noch weit?, fragte eine vertraute Stimme in Reivans Gedanken hinein.
Möglicherweise bildete Reivan es sich nur ein, aber Imenjas Gedankenruf wirkte angespannt und sorgenvoll. Reivan runzelte die Stirn.
Nein, ich habe nur noch zwei Flure vor mir, antwortete sie.
Jetzt mischte sich Sorge in ihr Unbehagen. Kleine Zwischenfälle und Fingerzeige hatten in Reivan den Argwohn geweckt, dass ihre Herrin und Nekaun, die Erste Stimme, eine Abneigung gegeneinander gefasst hatten. Ihr war aufgefallen, dass Imenja regelmäßig eine andere Meinung vertrat als Nekaun und dass die Erste Stimme Imenjas Entscheidungen häufig verwarf. Und beide befleißigten sich dabei der denkbar höflichsten Ausdrucksweise.
Es gab auch weniger auffällige Anzeichen. Wann immer sie sich im selben Raum aufhielten, sah Imenja Nekaun niemals direkt an. Oft verschränkte sie die Arme vor der Brust oder legte bewusst Abstand zwischen sich und ihn. Er lächelte sie häufig an, aber seine Augen drückten dabei stets ein anderes Gefühl aus als Freundlichkeit. Manchmal war es Ärger, manchmal eine Herausforderung.
Ich deute ihr Verhalten wahrscheinlich einfach falsch, sagte sich Reivan. Aber sie konnte eine gewisse Unruhe nicht unterdrücken. Sämtliche Anzeichen von Konflikten zwischen den Stimmen, wie klein sie auch sein mögen, würden genügen, um jeden zu beunruhigen. Selbst wenn man die ungeheure magische Kraft vergessen könnte, über die sie verfügen, galt es doch, das langfristige Wohlergehen des Volkes zu bedenken. Die Stimmen mussten für die ganze Ewigkeit miteinander auskommen. Es wäre besser, wenn sie sich verstehen würden.
Auf einer persönlichen Ebene setzte ihr die Situation noch mehr zu. Sie mochte Imenja. Die Zweite Stimme behandelte Reivan nicht nur wie eine Gefährtin, sondern auch wie eine Freundin. Aber Reivan mochte auch Nekaun, wenn auch auf eine ganz andere Art und Weise. Er behandelte sie nicht wie eine Freundin, obwohl er tatsächlich freundlich war. Wann immer er ihr mit seinem natürlichen, lässigen Charme entgegentrat, stieg unwillkürlich eine Welle von Hoffnung und Erregung in ihr auf.
Reivan hatte gehofft, dass einige Monate auf See sie von ihrer Vernarrtheit kurieren würden, aber so war es nicht gekommen. Trotzdem hatte die Reise ihr Selbstvertrauen gegeben und ihre Entschlossenheit gefestigt, sich nicht zum Narren zu machen. Sie konnte ihre Arbeit nicht tun, ohne ihm zu begegnen, daher hatte sie sich vorgenommen, das Flattern in ihrem Magen zu ignorieren, ebenso wie die irritierenden Gedanken, die er in ihr weckte. Sie würde einfach warten, bis sie so oft mit ihm zusammen gewesen war, dass er ihr ganz alltäglich und nicht weiter bemerkenswert erschien.