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Als sie den Flur erreichte, der zu dem langgestreckten Balkon führte, auf dem die Stimmen gern zusammenkamen, hielt Reivan inne, um Atem zu schöpfen. Sie strich ihre Roben glatt, wischte sich das Gesicht ab, konzentrierte sich auf die vor ihr liegende Aufgabe und machte sich wieder auf den Weg.

Ein leises Gespräch am anderen Ende des Flurs erregte ihre Aufmerksamkeit. An der Stelle, an der man die beste Aussicht auf die Stadt hatte, waren mehrere Stühle aus verwobenem Schilf aufgestellt worden. Alle Stimmen und ihre Gefährten hatten dort Platz genommen, einzig Nekaun war stehen geblieben. Wie immer lehnte er am Geländer und blickte auf seine Mitregenten und ihre Ratgeber hinab.

Reivan machte das Zeichen des Sterns über der Brust und nickte allen Stimmen respektvoll zu. Die Fünfte Stimme, Shar, nippte an einem Becher mit gewürztem Wasser. Seine bleiche Haut und sein langes, helles Haar bildeten einen scharfen Gegensatz zu Genzas warmem, braunem Teint und dem kurz geschnittenen Haar. Vervel, die untersetzte Dritte Stimme, wirkte kräftiger und älter als seine Gefährten. Wie immer hatte Genza einen ihrer gezähmten Vögel mitgebracht, und zu Shars Füßen lag ein Worn. Genau genommen lag er auf Shars Füßen, wie Reivan bemerkte. Das Tier hechelte in der Hitze des Tages.

Reivan wich Nekauns Blick aus und sah stattdessen Imenja an, die Zweite Stimme. Ihre Herrin war schlank und elegant und erweckte den Eindruck, als sei sie etwa Ende dreißig. Sie lächelte Reivan zu und deutete auf den leeren Stuhl an ihrer Seite.

Das Gespräch war bei Reivans Erscheinen abgebrochen, aber keiner der Anwesenden hatte sich ihr zugewandt. Alle sahen erwartungsvoll zu Nekaun hinüber.

Er lächelte. »Jetzt, da wir alle hier sind, möchte ich euch einen alten Freund von mir vorstellen, Heshema Führer. Er ist soeben aus Nordithania zurückgekehrt, wo er für mich einige Nachforschungen angestellt hat.«

Aus den Augenwinkeln sah Reivan, dass Imenja die Stirn runzelte. Als kurz darauf Schritte im Flur widerhallten, verschwand der Ausdruck der Missbilligung aus ihren Zügen. Reivan drehte sich um und sah einen Mann in mittleren Jahren auf den Balkon treten.

Sie hatte erwartet, dass jemand mit einem so typisch sennonischen Namen den unverkennbaren feingliedrigen Körperbau und die sonnengebräunte Haut dieses Volkes haben würde, aber Heshema war ein wenig beeindruckender Mann. Wenn sie ihn hätte beschreiben müssen, wäre es ihr schwergefallen, ein besonderes Merkmal zu finden, das ihn von anderen hätte unterscheiden können. Er sieht ziemlich nichtssagend aus, überlegte sie. Aber wenn er in Nordithania für Nekaun Informationen gesammelt hat, muss er ein Spion sein, und ein Spion dürfte kaum den Wunsch haben, besonders auffällig oder einprägsam zu sein.

»Es ist mir eine Ehre, euch alle kennenzulernen«, begrüßte Heshema sie mit tiefer, melodischer Stimme.

Während die Anwesenden auf ähnliche Weise antworteten, lächelte Reivan in sich hinein. Seine Stimme ist sein besonderes Merkmal, dachte sie. Obwohl ich vermute, dass er gelernt hat, wenn nötig mit unauffälligerer Stimme zu sprechen.

»Ich habe Heshema gebeten, euch zu erzählen, was er herausgefunden hat«, erklärte Nekaun. »Einige von euch werden einen Teil dieser Geschichte bereits kennen, aber ihr werdet wohl alle etwas Neues erfahren.«

Als die Erste Stimme Heshema erwartungsvoll ansah, nickte der Mann.

»Ich bin gegen Ende des Winters in Jarime angekommen«, begann der Spion. »Die Kälte dort ermuntert die gewöhnlichen Leute, sich in Schanklokalen zu treffen, um die Wärme eines Feuers zu teilen und Klatsch und Tratsch auszutauschen. Die meisten Gespräche drehten sich um den Rücktritt von Auraya der Weißen. Die offizielle Erklärung ist die, dass sie ihren Abschied genommen habe, um sich den Siyee zu widmen, die große Verluste durch eine Seuche erlitten hatten.

Viele Menschen bewunderten sie dafür, dass sie Unsterblichkeit und große magische Macht für eine solch noble Sache geopfert hatte, aber einige zweifelten auch an der Wahrheit der Erklärung und stellten Spekulationen darüber an, dass ihre Götter Auraya von den Weißen wegen irgendeines Verbrechens oder eines Fehlers verbannt hätten. Das Vergehen, das sie für das wahrscheinlichste hielten, war Aurayas Sympathie für die Traumweber. Sie hatte angeregt, dass zirklische Heiler und Traumweber in einem Gebäude im Armenviertel, das sie ›Hospital‹ nannten, Seite an Seite die Bedürftigen behandelten. Es war ein unbeliebter Schritt, den insbesondere die wohlhabenden Bürger missbilligten.

Es machten aber auch andere Ideen die Runde, einschließlich einer Affäre mit einem Traumweber und der Unterstellung, Auraya habe ihre Pflichten als Weiße vernachlässigt, um den Siyee zu helfen. Einige Leute dachten sogar, sie sei vielleicht Pentadrianerin geworden.«

Die Stimmen kicherten, und Heshemas Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.

»Auch gab es Spekulationen darüber, dass Auraya die Weißen überhaupt nicht verlassen habe«, fuhr er fort, »und dass dies eine List sei, um uns in eine Schlacht zu locken. Die Vielzahl von Zirklern, die zu Hohepriestern geweiht wurden, sprach für mich eine andere Sprache. Einzig Hohepriestern steht es offen, ein Weißer zu werden. Anscheinend treffen ihre Götter die endgültige Entscheidung, aber die Weißen sorgen dafür, dass es reichlich Kandidaten gibt.«

Reivan fiel auf, dass in seiner Stimme eigenartigerweise keine Skepsis mitschwang.

»Hast du irgendetwas gesehen, das die Frage beantwortete, ob ihre Götter real sind?«, wollte Imenja wissen.

Heshema sah Nekaun an. »Nichts, was jeden Zweifel ausgeräumt hätte.«

»Das ist nicht der Grund, warum ich Heshema in den Norden geschickt habe«, unterbrach Nekaun.

»Nein?« Imenja wandte sich mit einem Lächeln zu Nekaun um. »Natürlich nicht, aber ihm könnte trotzdem etwas aufgefallen sein.« Sie nickte dem Spion zu. »Fahr mit deiner Geschichte fort, Heshema.«

Der Mann neigte den Kopf. »Ich bezweifelte, dass die Weißen es freundlich aufnehmen würden, wenn ich ihnen Fragen stellte, daher suchte ich nach anderen Informationsquellen. Ich gab mich als genrianischer Händler aus, um mich mit Aurayas ehemaligem Ratgeber, Danjin Speer, zu treffen. Er hielt die offizielle Erklärung für wahr. Ihm zufolge hatten die Siyee Aurayas Herz gestohlen, seit sie ihnen das erste Mal begegnet war. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass er von irgendeinem Geheimnis um seine frühere Herrin weiß. Es muss etwas Persönliches sein. Mir schien, als hätte sie etwas getan, das ihn enttäuscht hatte.«

»Eine Affäre?«, fragte Genza.

Heshema zuckte die Achseln. »Das wäre möglich.«

»Du sagtest, es habe Gerüchte über eine Affäre mit einem Traumweber gegeben«, warf Vervel ein.

»Ja. Ich hatte ihnen nicht viel Glauben geschenkt, bis ich die Siyee befragte. Mir war zu Ohren gekommen, dass sich eine Handvoll Geflügelter in Jarime aufhielt, einige als Botschafter und andere, um sich zu Priestern und Priesterinnen ausbilden zu lassen. Sie vertragen erstaunlich wenig berauschenden Alkohol, und die beiden Akolythen, mit denen ich sprach, haben mir nur allzu gern von den Gerüchten in Si erzählt, was Aurayas letzte Monate dort als Weiße betrifft.

Sie ist nach Si zurückgekehrt, nachdem eure Götterdiener dort gelandet waren, ist jedoch wegen des Ausbruchs einer Seuche länger geblieben. Als sie das erste Dorf erreichte, in dem die Krankheit grassierte, traf sie auf einen Traumweber, der bereits dort war. Sie kannte diesen Traumweber, und jene, die die beiden gemeinsam beobachtet haben, sagten, es habe offensichtlich Groll zwischen ihnen geherrscht, doch dann hätten sie ihre Streitigkeiten überwunden und standen, als Auraya das Dorf verließ, auf freundschaftlichem Fuß miteinander.

Was anschließend geschah, ist ein Rätsel, das die Siyee liebend gern lösen würden. Der Traumweber verließ Si ohne jedwede Erklärung, und Auraya ging wieder nach Jarime, um von den Weißen zurückzutreten. Die Siyee glauben, dass beide Ereignisse zusammenhängen, wissen aber nicht, wie. Als ich jedoch eine mögliche Affäre andeutete, waren sie davon überzeugt, dass das nicht der Grund sein könne.«