Er ist so viel selbstsicherer als Leiard, ging es ihr durch den Kopf. Obwohl Leiard auch so war, als er noch im Wald lebte. Erst in Jarime und in der Nähe der Weißen wirkte er ängstlich. Nur… er war nicht ängstlich, als wir Liebende waren. Da war er eher…
Die Erkenntnis traf sie wie ein Strahl purer Energie. Als Leiard ihr Geliebter gewesen war, hatte er größere Ähnlichkeit mit Mirar gehabt. Die ganze Zeit über, während sie mit Leiard zusammen gewesen war, war Mirar bei ihr gewesen, wenn auch in einer verringerten, halb vergessenen Gestalt.
Vielleicht waren es nur ihre gegenwärtige Schwäche und Verletzbarkeit, die ihre Gefühle verstärkten, aber mit einem Mal wurde sie von Sehnsucht nach ihm überwältigt. Und dieser Regung folgte ein nicht minder starkes Entsetzen.
Ich muss vorsichtig sein, sagte sie sich verzweifelt. Wahrscheinlich könnte ich mich in jeden verlieben, der mich von hier fortholt, und ich würde niemals wissen, ob das Gefühl echt ist.
Während der letzten Tage war die dunwegische Armee zwischen den Hohlen Bergen auf der rechten und dem Meer auf der linken Seite marschiert. Die Straße hatte über sanft gewellte Hügel geführt, das Wetter war mild gewesen, und der Geruch des Meeres hatte der Luft eine saubere, frische Schärfe verliehen. Der Wald von Dunwegen machte felsigem Land Platz, das bedeckt war von hohen Gräsern und vom Wind gebeutelten Sträuchern und Bäumen.
Die spärliche Pflanzenwelt gab hier und da den Blick auf weißen Sand und blaues Wasser frei. Wann immer Danjin einen weiteren scheinbar idyllischen Strand sah, stieg eine sehnsüchtige Enttäuschung in ihm auf. Er konnte kaum innehalten, um die Schönheit der Landschaft auszukosten; er war Teil einer Armee, und diese Armee eilte in den Kampf mit einer anderen.
Diese Straße wurde gelegentlich von Händlern benutzt, die Waren nach Dunwegen brachten, aber während des größten Teils des Jahres begünstigte das Wetter eher einen Transport mit Schiffen. I-Portak betrachtete von Zeit zu Zeit den Horizont, zweifellos auf der Suche nach den Kriegsschiffen seines eigenen Volkes. Nach mehreren hundert Jahren Frieden in Nordithania unterhielten einzig die Dunweger eine Flotte von Kriegsschiffen und bildeten ihre Krieger in der Kunst der Seeschlachten aus. Spionen zufolge besaßen die Pentadrianer ihre eigene kleine Flotte und verfügten auch über eine gewisse Fähigkeit darin, sie zu benutzen. Während des vorangegangenen Krieges hatte Danjin Lanren Liedmacher, den Kriegsratgeber der Weißen, gefragt, warum die Pentadrianer nicht nach Jarime gesegelt seien, statt durch die Berge zu marschieren.
Der Mann hatte ihm erklärt, dass eine Seereise um die westliche Seite des Kontinents herum wegen ungünstiger Winde sehr lange dauern würde, während die Ostseite von dunwegischen Kriegsschiffen bewacht wurde. Den Dunwegern wäre die Gelegenheit, ihre Fähigkeiten an einem Feind zu erproben, sehr willkommen gewesen.
Doch nichts hinderte die Dunweger daran, nach Süden zu segeln. Nicht wenn Sennon die Zirkler unterstützte. Die dunwegischen Kriegsschiffe sollten in Karienne, der sennonischen Hauptstadt, auf den Rest der Armee treffen und dann den Versorgungsschiffen auf ihrem Weg nach Süden, zur Landenge Grya, sicheres Geleit geben.
Aber zuerst müssen wir Karienne erreichen, dachte Danjin. Wir müssen die sennonische Wüste durchqueren und uns darauf verlassen, dass Sennon uns mit genug Wasser versorgen wird, um zu verhindern, dass die Armee verdurstet.
Das Land wurde stetig trockener. Rückblickend wurde Danjin klar, dass er seit mindestens zwei Tagen keinen Baum mehr gesehen hatte, der größer gewesen wäre als ein Mensch. Die Grasbüschel waren jetzt noch spärlicher. Die Erde war so trocken und staubig wie Sand. Als er an Ella und I-Portak vorbeischaute, sah Danjin die Wasserträger an der Kolonne von Kriegern entlanglaufen. Wann immer ein Kämpfer nach etwas zu trinken verlangte, füllten sie ihm aus großen Wasserschläuchen den Becher. Während der nächsten Wochen würde man ihrer Dienste dringend bedürfen.
I-Portak richtete sich auf seinem Sitz auf. Ellas Miene wurde mit einem Mal eindringlicher. Beide blickten über Danjins Kopf hinweg. Kurz darauf neigte sich der Plattan zur Seite, und Danjin wurde klar, dass der Wagen die Kuppe eines Hügels überwunden hatte und jetzt steil nach unten fuhr.
»Hier beginnt die Wüste«, murmelte I-Portak.
Danjin und die anderen Ratgeber drehten sich um. Eine bleiche Ebene erstreckte sich vor ihnen, durchbrochen nur von Dünen. Vom Fuß des Hügels führte die Straße schnurgerade bis zum fernen Horizont, wo Sand und Staub wie Rauch in den Himmel stiegen. Ein Wüstensturm vielleicht. Danjin hatte von Stürmen gehört, die so heftig waren, dass der Sand Reisenden die Haut vom Körper scheuerte oder sie bei lebendigem Leib begrub.
»Das ist die Armee«, hörte er Ella sagen. »Sie sind gut vorangekommen.«
Danjin lehnte sich erleichtert zurück. Kein Sturm. Nur die Zirkler.
»Wir müssten sie heute Abend eigentlich erreichen«, erwiderte I-Portak. »Oder früher, wenn du es wünschst.«
Danjin wandte sich wieder um und war froh zu sehen, dass Ella den Kopf schüttelte.
»Heute Abend wird früh genug sein. Wir sollten uns nicht überanstrengen, solange es nicht unbedingt sein muss.« Ihre Schultern hoben sich leicht und verrieten einen unterdrückten Seufzer. Danjin verkniff sich ein Lächeln.
Diese Reise erwies sich als überaus langweilig. Obwohl Ella während eines großen Teils der Fahrt zu dem pentadrianischen Dorf ihre Aufmerksamkeit auf den Geist des flüchtenden Dieners konzentriert hatte, war sie oft genug »aufgetaucht«, um sich zu unterhalten - oder um Danjin und Gillen beim Spiel zuzusehen. Selbst Yem war als Gefährte interessanter gewesen als I-Portak und seine Ratgeber.
Ella blickte zu ihm hinüber, und ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. Dann beugte sie sich vor.
»Hast du dieses kleine Reisespiel dabei, Danjin?«
Er nickte.
»Dann lass uns eine Partie spielen, um uns die Zeit zu vertreiben.«
Überrascht zog er sein Bündel unter seinem Sitz hervor und holte die Spielschatulle heraus. Nachdem er die Schublade aufgezogen hatte, nahm er die Steine heraus und stellte sie auf ihre Positionen auf dem Brett. I-Portak beobachtete ihn voller Interesse.
Umso größer war Danjins Verlegenheit, als er den letzten Spielstein nicht finden konnte. Wie immer ließ sich die Schublade nicht zur Gänze öffnen. Der Stein hatte sich vermutlich irgendwo im hinteren Teil verklemmt, aber er konnte die Schachtel weder kippen noch schütteln, ohne dass die Steine, die bereits aufgestellt waren, verrutschten. Schließlich schob er den Finger in die Schatulle und stellte fest, dass der letzte Spielstein sich tatsächlich verklemmt hatte.
Seufzend kippte er die anderen Steine auf seinen Schoß und versuchte, den eingeklemmten Stein herauszuholen. Wenn er die Schublade schloss und die Schachtel schüttelte, konnte er etwas in ihrem Innern klappern hören.
Nein, dachte er plötzlich. Es sind zwei Dinge darin.
Als er die Schublade wieder öffnete, stellte er fest, dass der Spielstein nach vorn gerutscht war. Er nahm ihn heraus und griff dann abermals in die Lade.
Es war noch immer etwas darin. Etwas, das gerade ein wenig zu breit war, um die Schublade aufzuziehen.
Er griff danach und drückte vorsichtig den Deckel der Schachtel nach oben. Der Gegenstand rutschte hindurch, und die Lade fiel vollends heraus. Danjin öffnete die Hand und starrte auf einen weißen Ring hinab.
Ella beugte sich vor und nahm ihm den Ring ab. »Das ist ein Priesterring.«
»Ja«, pflichtete Danjin ihr bei. »Aber wie ist er in mein Spiel gekommen?«
Sie zuckte die Achseln, dann runzelte sie die Stirn. »Es sei denn…« Ihre Augen wurden schmal, und sie sah ihn argwöhnisch an. »Was ist aus Aurayas Netzring geworden?«